Kindstötung in Berlin-Buch: "Es gibt keine Antwort auf das Warum"
Eine junge Frau tötet ihr Neugeborenes. Für Boulevardmedien ist schnell klar, warum: Die "Todesmutter" ist arm, hat schon zwei Kinder, lebt in der Platte. Doch so einfach ist es nicht, schreibt ein Sozialarbeiter, der die Familie kennt
Wie nähert man sich der Tat einer Mutter, die ihr Neugeborenes tötet? Vier Stunden nach der Festnahme verkünden die über Google gefundenen News alle das Gleiche: Madlene, die "Todesmutter" aus Buch, hat ihr neu geborenes Kind in der Mülltonne entsorgt. Sie war Hartz-IV-Empfängerin (!), lebte mit zwei (!) Kindern, Hund (!) und dem ebenfalls auf Hartz IV (!) angewiesenen Lebensgefährten in einer Plattenbauwohnung (!) in Berlin-Buch (!). Kein Wunder also, die Erklärung ist gefunden. So kann man das machen.
Ich versuche es mal anders. Ich kenne Lene und Tobi seit etwa sechs Jahren. Die beiden waren da bereits über zwei Jahre zusammen. Ein Paar, das sich gut ergänzt. Lene lächelt viel. Was sofort auffällt, sind ihr wacher Blick und das glucksende Lachen. Tobi ist ein stolzer Kerl, groß und breit, Kraftsportler. In der harten Schale steckt ein netter Bursche mit warmen, braunen Augen. Donna, die Boxerhündin, ist immer mit dabei. Selten habe ich so einen feigen Hund gesehen.
Als Streetworker engagieren wir uns auch im Kiez sehr stark. Die Probleme der Jugendlichen beginnen und enden manchmal hier. Wir veranstalten Soli-Partys, Konzerte, Flohmärkte. Lene ist immer mit dabei. Mal hinter dem Tresen als Kuchenverkäuferin, mal beim Kinderschminken oder einfach als gute Seele, die unverdrossen Kisten mit Klamotten aus- und wieder einpackt. Tobi ist stets an ihrer Seite. Er schleppt Bühnenplatten, steht sich die Beine als Security-Mensch in den Bauch, und zwischendurch streichelt er verstohlen Lenes Schulter.
Sechs Jahre lang betreut der Sozialarbeiter und Streetworker Andreas Hoch-Martin in Berlin-Buch ein junges Paar mit zwei Kindern. Beide lernt er als engagiert und bemüht um ihre eigene Zukunft und das Wohlergehen ihrer kleinen Söhne kennen.
Dann steht Madlene, die Mutter der beiden kleinen Jungen, plötzlich als "Todesmutter" im Fokus der Boulevardmedien. Die 24-Jährige soll ihr drittes Baby am 30. November zur Welt gebracht, dann erstickt und in eine Mülltonne geworfen haben. Derzeit befindet die Frau sich in Haft, eine Mordkommission ermittelt gegen sie. Die junge Frau hat die Tat gestanden. Das Baby sei lebend zur Welt gekommen und dann erstickt, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Es habe in Handtücher gewickelt in einer Mülltüte gelegen. Als ein Motiv für die Tat habe die Frau ihre Angst genannt, verlassen zu werden. Der Lebensgefährte der Mutter steht nach Angaben Steltners nicht im Verdacht, an der Tötung beteiligt gewesen zu sein. Streetworker Hoch-Martin legt sein Bild von der Familie in einem offenen Brief dar, den die taz hier abdruckt.
Die Pankower Bezirksstadträtin Christine Keil (Linke) bestätigte, dass die Tatverdächtige bereits zwei Kinder im Alter von einem und drei Jahren habe. "Die Familie wurde nicht vom Jugendamt betreut und war unauffällig", so Keil.
Erst vor wenigen Tagen hatte ein anderer Fall Bestürzung hervorgerufen. In Charlottenburg starb ein Neugeborenes durch einen Sturz aus dem Fenster im 5. Stock eines Mietshauses. Die Mutter soll ihr Baby aus dem Fenster geworfen haben, sitzt nun ebenfalls in Untersuchungshaft. (taz, dapd, dpa)
Vor drei Jahren kommt Lorenz (Name geändert) zur Welt. Der Kleine ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Paar wird zur Familie. Donna und Lorenz sind ein Herz und eine Seele. Nähert sich jemand dem Kinderwagen, werden die Augen wachsam und die Ohren spitz. Auch wenn der Schwanz zwischen den Beinen verschwindet und auch wenn man nur mal zu husten braucht, um die Hündin zu erschrecken. Tapfer bleibt sie stehen und schielt schräg nach oben. Später schläft das Tier vor dem Bett des Kindes.
Lene bewirbt sich in Lorenz erstem Jahr um Ausbildungsplätze. Sie möchte im Büro arbeiten. Geregelte Arbeitszeiten, damit die Familie nicht zu kurz kommt. Wir schreiben Bewerbungen, sie hat Vorstellungstermine, geht mit dem Kleinen in den Park, auf den Spielplatz, kauft ein, kocht und putzt. Tobi arbeitet in der Sicherheitsbranche. Er ist am Wochenende und auch nachts oft im Dienst. 5,50 Euro die Stunde reichen vorne und hinten nicht. Aber es ist selbst verdientes Geld. Ich bin erstaunt, als ich das erste Mal die Wohnung der drei betrete. Liebevoll eingerichtet und kindgerecht. Keine Ahnung, was ich mir vorgestellt hatte.
Lene bekommt ihren ersehnten Ausbildungsplatz. Lorenz wird in die Kita eingewöhnt und verbringt nun täglich acht Stunden dort. Lene lernt Vokabeln, putzt, kauft ein, holt den Kleinen ab, spielt mit ihm, bringt ihn ins Bett, lernt Grundlagen der Betriebswirtschaft, wäscht Wäsche und irgendwann fallen ihr die Augen zu. Das Ziel ist klar, ein geregeltes Arbeits- und Familienleben. Tobi arbeitet nachts und am Wochenende noch dazu als Ordner beim FC Union. Das Geld reicht nun fast bis zum Ende des Monats. Vor allem aber ist es selbst verdient.
Irgendwann schaut er mich an und fragt, ob ich ihm helfe, einen gemeinnützigen Verein zu gründen. Er möchte gern mit Jugendlichen aus Buch Kraft- und Kampfsport trainieren. Vor allem jugendliche Schläger, die ja kaum über Selbstbewusstsein verfügen, möchte er erreichen. Tobi will ihnen zeigen, wie sie sich gut verteidigen können, um nicht angreifen zu müssen. Angstbeißer sollen tapfer werden dürfen. So einen Verein zu gründen, ist nicht einfach. Papierkram. Satzungen, Vereinsrecht, Mitgliederversammlungen, Kassenwart und Spendenquittungen. Lene ist immer an seiner Seite. Sie schreibt Protokolle und wälzt die jeweils entsprechende Lektüre. Lorenz und Donna fehlen auch nie.
Die Mitglieder sind gefunden, der Vorstand gegründet. Das Amtsgericht muss leider mitteilen, dass die Unterlagen verloren gegangen sind. Zurück auf Start, gehe nicht über die Schlossstraße! Auch als Tobi flucht, schmunzelt Lene an seiner Seite. Und sie beginnt von vorn. Er auch. An einem Mittwoch in der Sprechstunde sitzt mir Tobi gegenüber. Im Sicherheitsgewerbe will er nicht bleiben. Auf meine Nachfrage sagt er, dass er Streetworker werden will. Mit Jugendlichen arbeiten, Perspektiven aufzeigen und zur Seite stehen möchte er ihnen zukünftig. Wir beginnen zu planen. Welche Abschlüsse sind vonnöten? Abitur. Praktika. Studium. Lene sitzt dabei, hat Lorenz auf dem Schoß und sagt: "Dicker, wenn du das willst, schaffen wir das!" Tobi ist lange raus aus der Schule. Sie sagt es mit Nachdruck.
Schule suchen. Vorkurs zum Abitur. Bafög beantragen. Verein gründen. Lene und Tobi planen alles gemeinsam. Lenes Ausbildung ist eine echte Herausforderung neben dem Alltag mit Kind, Hund und Haushalt. Sie bringt den Kleinen ins Bett, Tobi bringt ihn in die Kita, bevor er sich nach der Nachtschicht schlafen legt. Und plötzlich meldet sich Theo (Name geändert), Lene ist schwanger. Alle Pläne werden über den Haufen geworfen. Abitur und Studium sind nun nicht mehr denkbar. Die Sicherheitsbranche ist zwar schlecht bezahlt, aber es bringt Geld. Zumindest etwas. Und es ist selbst verdient. Im Dezember kommt Lorenz Bruder zur Welt. Geplant war er nicht. Theo ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Er strahlt und lacht. Lene ist manchmal blass, trotzdem lacht sie viel.
Sie entscheiden, dass Tobi doch mit dem Vorkurs anfangen soll. Lene bleibt mit dem Kleinen für ein Jahr zu Hause und wird ihre Ausbildung dann fortsetzen. Nun ist es Tobi, der Vokabeln lernt, Referate ausarbeitet. Am Wochenende arbeitet er weiter beim FC Union. Nach der Schule den Großen abholen, dann mit Lene kochen, essen. Die Kinder ins Bett bringen, lernen. Der Sport kommt viel zu kurz. Lene und Tobi streiten manchmal. Sie ist etwas neidisch. Er kann in die Schule gehen. Sie hat den Tag über nur den Kleinen.
Tobi nimmt mich eines Tages zur Seite. Er macht sich Sorgen. Lenes Gebärmutter ist verrutscht, ihr Bauch geschwollen. Eine Ärztin rät zur Operation. Lene und Tobi holen weiteren Rat bei einer anderen Ärztin ein. Die meint, nicht operieren! Das Jahr zu Hause ist für Lene bald vorbei. Sie freut sich darauf, ihre Ausbildung fortzusetzen. Kurz vor Theos erstem Geburtstag geht es endlich los. Lene ist nun wieder in der Ausbildung. Tobi hat den Vorkurs geschafft. Das Abitur geht nun in die Vollen. Am Montag ruft mich Lene an. Wir verabreden uns für Mittwoch im Büro. Lene, Tobi und die Kinder. Ich freue mich auf sie.
Mittwochnachmittag öffnet sich die Tür, und eine Beamtin der Kriminalpolizei bittet mich aus der Beratung. Sie will unter vier Augen mit mir reden. Vor dem Haus steht ein Polizeibus. Tobi und ein Beamter warten dort. Lene hätte heute Nacht ein Kind entbunden und vermutlich in eine Mülltonne gelegt. Tobi ist blass. Wir sitzen im Bus und fahren zum Haus, in dem die Familie lebt. Dort ist alles weiträumig abgesperrt. Eine Freundin holt den Kleinen von der Kita ab. Lene hat sich darum gekümmert, während sie vernommen wird. Tobi muss im Bus bleiben. Er wird Lene nicht mehr sehen. Ich hole den kleinen Theo und bringe ihn zu seinem Vater.
Lene wird mit einer Decke über dem Kopf abgeführt. Es ist schnell klar, dass Tobi mit der Sache nichts zu tun hat. Seine Familie kümmert sich sofort um ihn und die Kinder. Die Wohnung bleibt als Tatort gesperrt. Reporter ziehen durch Buch, sprechen jeden an, den sie im Umfeld der Wohnung treffen. Klingeln an Türen. Auch an der von Tobis Eltern.
Wir planen, wie es weitergehen soll. Es gibt keine Antwort auf das Warum. Lene bleibt in Haft. Sie wird vermutlich nicht so schnell wiederkommen. Wir müssen Tobi und die Kinder hier erst mal wegbekommen. Das Jugendamt kannte die Familie vorher nicht, stellt jedoch sofort Geld für eine Reise zur Verfügung. Eine Freundin der Familie wird Tobi und die Kinder begleiten. Tobis Vater fährt sie alle an den Ort, von dem niemand etwas wissen darf. Seine Mutter wird sich in der nächsten Woche um die Wohnung kümmern. Alles vorbereiten auf die Rückkehr, wenn der Medienrummel sich beruhigt haben wird. Keine Ahnung, wie es dann weitergeht. Was wird Tobi den beiden Jungs erzählen können? Vielleicht, dass die Mama auf einer Weltreise ist. Dass sie Amerika besucht. Dann Afrika. Später den Nordpol. Wir werden sehen.
Was genau passiert ist und warum, Lene wird es eines Tages erzählen müssen. Ich bin mir sicher, jetzt könnte sie es nicht. Ich bin froh, dass Tobi so eine starke Familie hat. Sie werden auch weiterhin zusammenhalten. Und ansonsten müssen wir alle gemeinsam jetzt einen Schritt nach dem anderen gehen. Tag für Tag. Vielleicht muss Tobi mit den Jungs umziehen. Der Rest wird sich zeigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Pro und Contra
US-Präsident Biden hat seinen Sohn begnadigt – richtig so?