„Kinder haben ein Selbstbestimmungsrecht“

JUGEND Seit Jahresbeginn gilt in Deutschland ein neues Kinderschutzgesetz. Ein Gespräch mit Rechtsanwalt Rudolf von Bracken über fehlende Aufklärung, Autos, anmaßende Lehrer und Jugendämter, Versäumnisse der Justiz und unzureichende Gesetze

■ 57, ist als Fachanwalt für Familienrecht tätig und engagiert sich für den Verein „Anwalt des Kindes e. V.“. Im Jahr 2008 eröffnete er unweit des Hamburger Hauptbahnhofes sein Büro für Kinderrechte. Dort gibt er Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre unentgeltlich Auskunft über ihre rechtlichen Möglichkeiten.

INTERVIEW ALICE WINKLER

taz: Zu Jahresbeginn trat das neue Bundeskinderschutzgesetz in Kraft. Ist jetzt alles gut, Herr von Bracken?

Rudolf von Bracken: Das Gesetz ist nicht schlecht – aber unzureichend. Außerdem hapert es gewaltig an der Umsetzung. Es bringt im Grunde wenige Neuerungen oder Vorteile für die Zielgruppe. Kinderrechte sind nach wie vor unterrepräsentiert. Vielmehr dominiert der fürsorgerische und helfende Aspekt. Es fehlt weiterhin an der Fundierung eigenständiger, die Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenssituation und ihren Rechten stärkender Regelungen.

Können Sie das näher erklären?

In Verfahren, von denen ein Kind betroffen ist, ist vom Gericht ein Verfahrensbeistand zu bestellen, also eine subjektive Interessensvertretung des Kindes. Das Problem ist, dass von diesen im Allgemeinen viel zu wenig auf die Belange des Kindes eingegangen wird. Es wird vergessen, dass sich das Kindeswohl am Kindeswillen zu orientierten hat. Kinder und Jugendliche haben faktisch nicht die Möglichkeit, einen neuen Verfahrensbeistand zu bestellen, wenn sie kein gutes Einvernehmen mit ihrem haben.

Werden Kinder und Jugendliche von den deutschen Gerichten zu wenig ernst genommen?

Nicht nur von den Gerichten. Auch viele andere mit Kindern betraute Stellen – Jugendämter oder Lehrer – maßen sich an, stets besser als das Kind zu wissen, was gut für dieses ist. Aber Kinder haben hinsichtlich ihrer persönlichen Situation Expertenwissen. Das darf ihnen von Erwachsenen nicht abgesprochen werden. Erfahrungen, die sie in jungen Jahren machen, prägen sie. Deshalb ist auch die Justiz in besonderer Weise verpflichtet, die Rechte von Kindern zu achten und sensibel mit kindlichen Belangen umzugehen.

Von welchen Verfahren sind Kinder am meisten betroffen?

In Deutschland erlebt jedes dritte Kind die Trennung seiner Eltern. In den Scheidungsprozessen wird dann entschieden, wer das Sorgerecht für das Kind erlangt. Es muss aber mit dem Kind entschieden werden. Seine Wünsche und Anregungen sollen in die Entscheidung mit einfließen. Kinder haben ein Selbstbestimmungsrecht – das gilt es zu achten. Sie sind keine Autos, über die man entscheidet.

Das Bundeskinderschutzgestze trat am 1. Januar 2012 in Kraft und orientiert sich an der 1992 von Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention.

■ Mehrere Fälle verwahrloster und misshandelter Kinder zwangen die Politik zur Reaktion. Prävention und Intervention sollen im Kinderschutz vorangebracht werden. Akteure, die sich für das Wohlergehen von Kindern engagieren, werden in ihren Rechten gestärkt.

■ Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist Pflicht.

■ Das Gesundheitswesen wurde trotz vielseitigen Drängens nicht ausreichend mit einbezogen.

Wie könnte man das ändern?

Würden die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen, könnte über diese nicht mehr hinweggesehen werden. Sie müssten stets Beachtung finden. Entgegen einiger Ansichten ist dem Kinderrechtsschutz nicht schon mit Artikel 1 des Grundgesetzes Genüge getan, also der Achtung der Menschenwürde. Es muss explizit auf die Rechte des Kindes eingegangen werden. Sowohl Tier- als auch Umweltschutz sind nachträglich in den Grundrechtskatalog aufgenommen worden. Es wird aber nicht für notwendig gehalten, Kinder und ihre Rechte ebenfalls aufzunehmen. Dies liegt daran, dass Erwachsene sich nicht auf Augenhöhe mit den Kindern begeben möchten, weil sie ihnen Eigenständigkeit und Urteilsfähigkeit absprechen.

Kennen Kinder überhaupt die ihnen zustehenden Rechte?

Das ist das nächste Problem. Die Justiz versäumt es, eine Aufklärung von Kindern einzufordern. Sowohl Jugendämter als auch Sozialarbeiter oder Lehrer sollten in die Pflicht genommen werden, Kinder über ihre Rechte zu belehren. Eine solche Rechtsbelehrung hat bei jedem Polizeieinsatz stattzufinden. Dies fordert das Rechtsstaatsprinzip. Bei Kindern unterbleibt das zu oft. Würden die Rechte von Kindern und Jugendlichen im Grundgesetz verankert, könnte man sich nicht mehr so einfach über sie hinwegsetzen.