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Archiv-Artikel

Kinder fremder Sprache

Deutsche Theaterautoren in Chile: Auf dem Festival Europäischer Gegenwartsdramatik erfahren sie Neues über die eigenen Stücke von vorsichtigen Regisseuren und Publikum

Schimmelpfennig, Loher, Pollesch oder Richter sind mittlerweile bekannt im chilenischen Theater

Beim 5. Festival Europäischer Gegenwartsdramaturgie in Santiago de Chile trafen die neuesten Stücke von Theresia Walser, Meike Hauck, Anja Hilling, Sibylle Berg und Händl Klaus auf ungewohnt spielfreudige Darsteller. Paul erhebt sich in dem Stück „Hund frisst Gras“ langsam aus dem Sessel, richtet seinen Blick gen Publikum und lässt ein akzentfreies „Danke!“ aus seinem rundlichen Bauch aufsteigen. Anschließend geht er entschlossenen Schritts zum Bühnenrand, wo er – nur zwei Meter entfernt von der ersten Zuschauerreihe – verharrt. Dort sitzt Meike Hauck, die Autorin des Stücks „Hund frisst Gras“, das sie in dieser chilenischen Werkstattinszenierung zum ersten Mal auf einer Bühne sieht.

Das „Danke“ von Paul, einer der Hauptfiguren, wird das einzige deutsche Wort bleiben, das sie an diesem Abend vernimmt. Es dient als gelungene Geste in einer variantenreichen Adaption des Regisseurs Rodrigo Pérez, über die Hauck, wie sie in der anschließenden Podiumsdiskussion erklärt, „sehr glücklich“ ist.

Szenen wie diese sind es, die das Festival europäischer Gegenwartsdramatik zu einer „einzigartigen Instanz des Entdeckens und Austauschens von Texten sowie des Zusammentreffens europäischer Autoren mit der chilenischen Theaterkultur“ machen, wie es Caioia Sota, die Produzentin des Festivals, beschreibt. Im Jahr 2001 wurde es auf das Betreiben der Kulturinstitute Spaniens, Frankreichs und Deutschlands ins Leben gerufen. Nach und nach kamen Stücke aus der Schweiz, Großbritannien, Italien und Kroatien dazu. Die Auswahl der Texte erfolgt nach strengen Kriterien. Keines darf älter als zehn Jahre sein, kein Autor darf ein zweites Mal eingeladen werden. Aus den Vorschlägen der Kulturinstitute wählt eine chilenische Expertenkommission die Stücke samt Regisseur aus, die entweder als Werkstattinszenierung oder als szenische Lesung aufgeführt werden.

Dies führte dazu, dass deutsche Autoren wie Roland Schimmelpfennig, Dea Loher, René Pollesch oder Falk Richter mittlerweile auch außerhalb des Festivals bekannte Größen des chilenischen Theaters geworden sind. Das war nicht immer so, wie Hartmut Becher, ehemaliger Leiter des lokalen Goethe Instituts und geistiger Vater des Festivals, zu berichten weiß: „Als ich hier ankam, galt Brecht als zeitgenössischer Autor und Heiner Müller war der letzte Schrei.“

So groß der Bekanntheitsgrad deutscher Autoren mittlerweile in Chile ist, so wenig hat sich der Kulturaustausch in die andere Richtung bewegt. Bis auf wenige Ausnahmen finden chilenische Autoren kaum einmal den Weg auf deutsche Bühnen. Eine dieser Ausnahmen ist Benjamin Galemiri, Mitglied der Fachkommission: „Ich halte es für einen Mangel an Großzügigkeit einiger Europäer, dass sie keine lateinamerikanischen Einflüsse akzeptieren.“ Becher bedauert diese Tendenz ebenfalls. Den Vorwurf des Kulturkolonialismus weist er allerdings zurück: „Wenn ein deutsches Stück von einem chilenischen Regisseur mit chilenischen Darstellern aufgeführt wird, dann entsteht da etwas völlig anderes, dann findet da Kulturbegegnung statt.“

In diesem Jahr durften Theresia Walser, Meike Hauck und Händl Klaus als eingeladene Autoren an dieser Begegnung teilnehmen. Mit durchaus unterschiedlichen Erfahrungen. Walser zeigte sich mit der Inszenierung ihrer „Wandernutten“ durchaus zufrieden. Ausdrücklich lobte sie Regisseur Luis Ureta für die präzise Ausarbeitung der Figuren und die Beibehaltung der räumlichen Trennung von Frauen- und Männergesellschaft. Überrascht war sie von der Interpretation der „immer glücklicher werdenden Beziehung“ des Pornopärchens. „Darauf wäre ich nicht gekommen!“

Zum größten Missverständnis kam es jedoch bei der Inszenierung von Händl Klaus’ „Dunkel lockende Welt“. Regisseur Rodrigo Achondo versuchte „der europäischen Intellektualität des Textes“ gerecht zu werden, indem er den Text wortgenau von Karten ablesen ließ. Was den sichtlich verlegenen Autor zu einer ironischen Selbstverteidigung veranlasste: „Auch intellektuelle Menschen haben Gefühle.“ Bedauerlich ist dieses Missverständnis vor allem deshalb, weil Achondo dem Stück gerade das Element entzog, das von allen Autoren als große Bereicherung hervorgehoben wurde: „die ungewohnte Vitalität und die musikalische Ausdrucksweise der Darsteller, die den Texten eine neue Dimension geben“ (Walser).

Heidrun Beier, ehemaliges Ensemblemitglied des Leipziger Stadttheaters, die seit sieben Jahren in Chile als Schauspielerin tätig ist, führt das temperamentvolle Auftreten chilenischer Darsteller auf die Produktionsbedingungen in Chile zurück: „Hier ist man als Schauspieler in den Gesamtprozess der Inszenierung eingebunden. Von der Stückauswahl bis zur Schminke, hier macht man alles selbst. Das Stück wird so zum eigenen Baby und man nimmt es viel wichtiger.“

Besonderen Anklang beim Publikum, das teilweise mehr als eine Stunde für die begehrten Tickets anstand, fand Haucks „Hund frisst Gras“. Das Drama über die Ehe, „einen der größten Abgründe des Menschen“ (Hauck), ist in Chile von besonderer Brisanz. Dort wurde erst vor ziemlich genau einem Jahr die Scheidung per Gesetz ermöglicht. Eine Tatsache, die Hauck erst während des Festivals erfuhr. Die klug durchdachte Inszenierung des komplexen Textes begeisterte nicht nur das Publikum und die Autorin, sondern stieß gleichzeitig zur eigentlichen Essenz der Veranstaltung vor: der gegenseitigen künstlerischen und gesellschaftlichen Stimulierung im Dialog unterschiedlicher Kulturen. Hauck erwiderte die Geste des chilenischen Regisseurs mit einem Gracias: „Ich war durch die zahlreichen Subtexte meines Stücks am Ende selbst verwirrt. Durch die Inszenierung ist mir wieder einiges klar geworden.“ REINHARD BABEL