Kieler "Tatort": Triste Einsamkeit in ihrer ganzen Härte
Seltener Glücksmoment: In "Borowski und die Frau am Fenster" quatschen die Kommissare nicht alles tot. Sibel Kekillis Auftritt gerät dennoch nicht zur Nebensache.
Hat jemals zuvor ein "Tatort" mit Zarah Leander angefangen? Hier röhrt ihre Stimme durch – nunja, den Landrover der Tierärztin Charlotte Delius, die am Feldweg neben der Landstraße geparkt ihrem Schwarm auflauert und kräftig mitsingt. Vom Wunder, das einst geschehn wird, und von der Sehnsucht nach Liebe. Und wenn das Objekt der Begierde ihr schmucker Nachbar und noch dazu von Beruf motorradfahrender Streifenpolizist ist, lässt sich so ein Rendezvous ganz einfach provozieren: Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit fährt die Tierärztin also am Bullen vorbei, der sich alsbald blaulichternd vor sie setzt: Operation geglückt.
Doch es bleibt bei diesen kleinen, quasi chirurgischen Maßnahmen, die glücken. Die Gefühle bleiben unerhört. Hans Nielsson (Dirk Borchardt), der Polizist und Nachbar, denkt nicht daran, die Sehnsucht der spröden, älteren Tieräztin – grandios in ihrer Verbitterung gespielt von Sibylle Canonica – zu erlösen. Er bekommt sie nicht mal mit, schließlich ist er amourös anderweitig unterwegs: Valeska heißt der neue Schatz des ewig Eifersüchtigen, dem die erste Frau schon weggelaufen ist, und diesmal soll alles anders werden.
Unheil muss also kommen, weil Delius in ihrer zur Sucht gesteigerten Sehnsucht gefangen ist: der verzweifelte Blick im Supermarkt, als sie Veleska am Regal mit Baybrasseln sieht, der stumme, leidenschaftliche Schmerz, mit der die Tieräztin am Fenster das Leben im Nachbarhaus verfolgt, ja förmlich verschlingt, Sibylle Canonica spielt das alles so zurückgenommen-intensiv, dass es einem Angst macht.
Pralle Komik
Dass man bei "Borwoski und die Frau am Fenster" die Täterin dabei von Filmminute eins im Blick hat und nie Zweifel an ihr aufkommen, tut diesem "Tatort" dabei alles andere als Abbruch. Es ist eher ein seltener Glückmoment. Dass ein Drehbuch soviel Schweigen lässt und auch die spät eingreifenden Kommissare nicht alles totquatschen, ist dabei fats ein Markenzeichen von Autor Sascha Arango. Er habe "sowieso kein Problem damit, wenn die Ermittler erst nach knapp einer halben Stunde ihren ersten Auftritt haben", hatte Arango schon bei der Vorpremiere des Films beim Krimifestival "Tatort Eifel" erzählt, er drehe schließlich keine x-beliebigen Whodunnits, die "interessieren mich einfach nicht".
Und so muss man auch lange auf Sibel Kekillis als "Tatort"-Neuermittlerin Sarah Brandt warten. Trotzdem gerärt ihr erster großer Einsatz an der Seite von Borowski (Axel Milberg) nicht zur Nebensache. Sie bringt – beinahe schon ein bisschen zu aufdringlich – frischen Wind ins graue Polizeiaktenlkeben. Wo der Hauptplot auf dem flachen Land triste Einsamkeit in ihrer ganzen Härte zeigt, schwelgt der Film dabei in praller Komik, sobald er sich im und ums Komissariat aufhält: Da flieht Borowskis handwerklich begabter Freund und Vorgesetzter, Polizeirat Schladitz (Thomas Kügel) aus dem Familienurlaub in Borowskis edle Jungegesellenbude und gibt den Leibkoch in kurzen Hosen, während der Kommissar mit milder Frustration plötzlich alle Entscheidungen allein zu fällen hat. Und am Abend gibt’s dafür Boeuf Stroganoff.
Auch Brandt und Borowski begegnen sich beim Essen, unter ungleich un-kulinarischen Umständen. Ihr beinahe wortloses Kennenlernen in der Polizei-Kantine gehört dabei zum Besten, was das deutsche Fernsehen in letzter Zeit an subversiven Humor zustandegebracht hat.
Gemeinsam waten sie durch einen für sie zunächst scheinbar undurchsichtigen Fall, bei dem die ZuschauerInnen von Anfang an klarer sehen als die Kommissare und die eiskalte Logik einer psychisch kranken Seele durchschauen – ein schon mal im Kieler "Tatort" gewagtes Experiment. Unter der Regie von Stephan Wagner ist es dieses Mal noch besser geglückt.
Kiel-Tatort: Borowski und die Frau am Fenster, Sonntag, 2.10.2011, 20.15 Uhr, ARD
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