: Keine Beweise, keine Zeugen
VERKNÜPFUNGEN Eduardo Belgrano Rawsons „Die Predigt von La Victoria“ fußt auf zwei von Polizisten begangenen Verbrechen. Im Übergang zur Demokratie entwirft dieser Roman ein eindrückliches Bild von Gewalt und Willkür im Westen Argentiniens
Von EVA-CHRISTINA MEIER
Von 1976 bis 1983 fielen dem argentinischen Staatsterrorismus mehr als 30.000 Menschen zum Opfer. Die Bearbeitung dieser historischen Epoche ist eines der wichtigsten Themen der jüngeren argentinischen Literatur.
„In diesem Roman gibt es wenig Erfundenes,“ schreibt der 1943 geborene Schriftsteller Eduardo Belgrano Rawson zur Einleitung von „Die Predigt von La Victoria“. „Einige der Figuren sind meine Freunde und es ist schwer, objektiv zu sein,“ sagt er. „Doch ich habe versucht, mich an die Tatsachen zu halten.“
Belgrano Rawson greift in seiner Erzählung eine wahre Begebenheit auf, die sich 1989 in der Provinzhauptstadt San Luis zugetragen hat – sechs Jahre nach dem Ende der Diktatur. Damals verschwand die fünfzehnjährige Claudia Díaz spurlos. Die Polizei beschuldigte daraufhin den jungen Nelson Madaf, Sohn einer vielköpfigen Familie aus bescheidenen Verhältnissen, des Mordes an Claudia Díaz. Der Mittäterschaft und illegalen Abtreibung angeklagt wurden Laura Godoy, eine Freundin der Verschwundenen sowie deren Mutter, eine Krankenschwester. Es gab keine Beweise, keine Zeugen – nur ein von der Polizei durch wiederholte Folter erzwungenes, widersprüchliches Geständnis Nelson Madafs.
Trotzdem wurden die drei verurteilt. Nach neun Jahren tauchte die angeblich ermordete Claudia Díaz plötzlich wieder in San Luis auf. Sie war damals von ihrem Elternhaus abgehauen und danach bei einem Alkoholiker in Caucete, einem Ort in der Provinz San Juan, hängengeblieben. Nelson Madaf – inzwischen an Aids erkrankt – entließ man daraufhin aus der Haft. Auf eine Entschädigung mußte er jedoch bis zuletzt vergeblich warten.
Belgrano Rawson, der selber aus der Provinz San Luis stammt, erzählt diese unfaßbare Geschichte von Polizei- und Justizwillkür weder chronologisch noch linear, sondern berichtet aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner Protagonisten und mit der Distanz der dritten Person. Über die bloße Wiedergabe der realen Fakten hinaus, schafft der Autor durch diese Art der Montage ein sich weit verzweigendes und überlagerndes Gefüge aus Biographien und Genealogien im Westen der argentinischen Provinz zwischen San Juan, la Salina, el Volcán, el Durazno und San Luis.
„Die Madafs wurden als Türken bezeichnet, obwohl keiner von ihnen aus der Türkei stammte. Sie kamen aus einem Erdbebengebiet am Fuße der Anden, westlich von Caucete in der Provinz San Juan.“ Nach der Festnahme seines Sohnes nimmt Vater Madaf Arbeit auf einer Obstplantage an und so zieht die Familie ins Tal nach El Durazno. Doch auch dort werden sie mit nächtlichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen von der Polizei terrorisiert: „Woher waren die Ermittler gekommen, die sich mit Nelson befaßten? Wie konnte es sein, dass plötzlich ein Trupp raffinierter Spürhunde in diesem elenden Kaff auftauchte. San Luis war nicht gerade eine Hochburg des Verbrechens.“
In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich der Roman einem anderen historischen Fall zu, der sich während der argentinischen Diktatur zugetragen hat und dessen literarische Rekon- struktion indirekt eine Antwort auf diese Frage gibt. Diese von Belgrano Rawson erzählte Geschichte beginnt wieder in El Durazno, dem Tal in der Nähe von San Luis. Dort lebt nach seiner Rückkehr aus dem französischen Exil seit den 1990er Jahren Gallego. Auch nach zwanzig Jahren lässt diesen die Suche nach seinem vermissten Sohn Pedro Nadal nicht los.
Wie in so vielen Fällen während der argentinischen Diktatur verlor sich die Spur des Kindes, nachdem seine Mutter Hilda von der Polizei gestellt und ermordet wurde. Die damals siebzehnjährige Hilda alias Teresita hatte zuvor als Mitglied einer Untergrundgruppe mit Pedro, dem Baby und seinem damals zweijährigen Bruder Carlos in der Clandestinität gelebt. Die folgenden Jahre wächst Pedro ahnungslos unter dem Namen Luchí Ferían als Adoptivsohn eines Wachtmeisters und Angehörigen einer gefürchteten Polizeisondereinheit in Buenos Aires auf.
Dem Autor Belgrano Rawson gelingt es durch beharrliches Zusammentragen, dem Abgleichen von Zeugenaussagen und Erinnerungsfragmenten, diese argentinische Geschichte stückweise zu rekonstruieren. In dem vom Roman geschilderten Fall Pedro Nadals endet die Suche des leiblichen Vaters schliesslich erfolgreich. Der Adoptivvater und vermutliche Entführer war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits verstorben.
Der zwanzigjährige Pedro Nadal begibt sich nun auf die Suche nach Menschen, die seine Mutter Hilda gekannt haben. Er will wissen, wer sie war und versucht zu verstehen, warum sie sich mit ihren zwei Kindern in Lebensgefahr begab. „Heute war es einfach, alles zu durchschauen, man wußte von den geheimen Lagern, den Todesflügen, den unzähligen Verschwundenen. Aber damals war das nicht so. Sie hatten nicht genug Vorstellungskraft besessen, sie hatten nicht ahnen können was kam. Sie hatten die Grausamkeit des Gegners unterschätzt,“ schreibt Belgrano Rawson.
Obwohl Belgrano Rawson sich in seiner Literatur historischen Themen widmet, ist bezeichnend, wie wenig Aufmerksamkeit er auf deren präzise zeitliche Einordnung sowie auf die Unterscheidung von dokumentarischem Material und Fiktion verwendet. Bereits in seinem 2003 erschienenen Roman „In Feuerland“ hatte sich Belgrano Rawson gekonnt einem bitteren Kapitel argentinischer Geschichte genähert – der endgültigen Ausrottung der Ureinwohner Feuerlands Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In einem Interview über die Entstehung von „In Feuerland“ sagte er zum literarischen Umgang mit Geschichte: „Das Problem für uns Schriftsteller, die wir uns Geschichte annähern, besteht genau darin, wie wir sie loswerden.“
Belgrano Rawson geht es nicht um die exakte Wiedergabe geschichtlicher Ereignisse, sondern um Erinnerung, die sich vor allem durch die atmosphärische Wahrnehmbarkeit eines Konflikts und die Unterschiedlichkeit der handelnden Personen darstellen lässt. So ergibt sich in „Die Predigt von La Victoria“ durch zahlreiche vage Verknüpfungen in einem breit angelehnten Gefüge aus Personen, Orten und Ereignissen ein ungefähres Bild vom Ausmaß und der Komplexität der Diktaturverbrechen. Dabei gelingt es Belgrano Rawson vor allem, Geschichte als etwas Offenes zu begreifen, das nicht statisch ist und sich in verschiedene Richtungen fortsetzen kann. Beruhigend ist das nicht.
■ Eduardo Belgrano Rawson: „Die Predigt von La Victoria“. Aus dem argentinischen Spanisch von Enno Petermann. C.H. Beck Verlag, München 2010, 303 Seiten, 19,95 Euro