: Keine Angst vor Fangzähnen
Neuerscheinungen von Hannah Brückner, Ayşe Klinge und Herman van de Wijdeven erzählen von einem folgenschweren Missgeschick, einem Vampir-Mädchen, das nicht auffallen möchte, und riskanten Mutproben unter Freunden

Von Eva-Christina Meier
Das Berliner Naturkundemuseum zählt zu den meistbesuchten Museen der Stadt. Schon vormittags bilden sich hier lange Besucherschlangen vor dem Eingang. Schul- und Kitagruppen sammeln sich aufgeregt, um beim Eintreten sogleich auf die Attraktion des Hauses, das größte rekonstruierte Dinosaurierskelett der Welt, zu treffen.
Dieses imposante Setting inspirierte die in Berlin geborene Illustratorin Hannah Brückner zu „Kolossale Katastrophe“, einer turbulenten Bilderbuchgeschichte. Die handelt von einem Ausflug ins „Dinomuseum“. Doch für Juri droht der Besuch unerwartet in einem riesigen Schlamassel zu enden.
Es ist bereits kurz vor Feierabend, als der Junge an der Hand des Vaters noch durch die große Ausstellungshalle schlendert. Als sie zu dem gigantischen „Brachiosaurus“ kommen, fliegt unerwartet etwas Lebendiges durch die Luft. Es ist der kleine, hellblaue Wellensittich aus der Museumsgarderobe, der haarscharf über ihre Köpfe hinwegsaust. Juri erschrickt furchtbar und weicht mit einem Satz nach hinten aus. Dann wirbeln plötzlich Knochen in allen Größen durch die Luft und türmen sich auf dem Museumsboden zu einem riesigen Berg. Mit offenem Mund verfolgen die Umstehenden sprachlos die Tragödie.
Hannah Brückner hält diese aufregenden Momente in sanften Pastellfarben fest. Mit feinen Linien, präzise und zugleich zerbrechlich, skizziert die Illustratorin den Ort des Geschehens mit all seinen außergewöhnlichen Exponaten. So lassen sich auf den Seiten neben den prominenten Dinosaurierskeletten allerlei versteinerte Fossilien oder Käfer und Schmetterlinge in Vitrinen entdecken.Trotzdem unterscheidet sich Brückners Bilderbuch deutlich von anderen Dinosaurierbüchern, weil es ebenso davon handelt, was Juri nach dem Missgeschick im Museum empfindet und wie es danach für ihn weitergehen kann. „Du glaubst wahrscheinlich sogar, es wird nie wieder gut. Du wirst ganz leise und stumm.“
Mit wenigen Zeilen und aus den Trümmern des eingestürzten Brachiosaurus entwickelt die Illustratorin eine fantastische Geschichte, die Mut macht und aus der hoffnungslosen Situation einen Ausweg aufzeigt. Das verblüffende Ergebnis lässt sich auf einer aufklappbaren Doppelseite bestaunen.
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Mit einem Schlag kompliziert wird es auch in Karlas Leben, als ihr der erste Fangzahn wächst. Der Kindercomic „Der Zahn“ erzählt von dem kontrastreichen Alltag eines Vampir-Mädchens zwischen „normaler“ Schule und gruftigem Elternhaus. Keine ihrer Schulfreundinnen ahnt bislang etwas von diesem Doppelleben. Doch der auffällige neue Zahn sorgt bei Karla für höchste Verunsicherung, und Alina posaunt auf dem Pausenhof laut in die Runde: „Vielleicht brauchst du eine Zahnspange?“ Schon bald überschlagen sich für die junge Vampirin die Ereignisse.
„Der Zahn“, ihre erste längere Comicgeschichte, illustriert Ayşe Klinge in Buntstift mit kräftigem Strich und entwirft eine Storyline mit humorvollen, dynamischen Szenen, deren lebendige Charaktere aus wachen Augen blicken.
Ayşe Klinge:„Der Zahn”. Kibitz Verlag, Hamburg 2025, 224 Seiten, 26 Euro. Ab 6 Jahre
Ein bisschen erinnert Karlas strenge Mutter in schwarzem Gewand an Morticia aus der Fernsehserie „The Addams Family“. Mit dem ersten Fangzahn ist für Walpurga nun der Zeitpunkt gekommen, um ihre Tochter endlich auf die traditionsreiche Vampir-Akademie zu schicken. Doch Karla möchte die Freundschaften zu den vertrauten Mitschüler*Innen nicht aufgeben, nicht zuletzt, weil sie sich neuerdings sehr gut mit der schüchternen Mila versteht. Gemeinsam zeichnen sie nachmittags Comics von Girl-Groups oder Werwölfen. Allerdings fürchtet Mila sich vor Vampiren. Besonders seit Niklas, ihr Freund und Nachbar, einen von ihnen mit wehendem Umhang abends am Fenster vorbeifliegen sah. Und bei dem Klassenausflug ins Gruselkabinett hatte ausgerechnet Karlas erfolgloser Vampir-Onkel Victor Mila fast zu Tode erschreckt. Von den Mitschülerinnen Alina und Emmi wird die ängstliche Außenseiterin deshalb immer wieder gemobbt.
Zu Hause weiß nur Karlas Großvater von all diesen Sorgen. Auch er war in seiner Jugend einst mit einem Menschen befreundet, deshalb unterstützt er heimlich die Enkelin.
Mit vielen witzigen Details aus der Welt der Vampire erweckt Ayşe Klinge in „Der Zahn“ das klassische Grusel-Genre zu neuem Leben. Auf 224 Seiten entwickelt die Comic-Autorin in glaubwürdigen Dialogen und über verschiedene Handlungsstränge eine überraschende Geschichte über das Anderssein. Unverkrampft und ganz nebenbei streift sie dabei große Themen und verhandelt aus einer altersgerechten Perspektive Erlebnisse von Eifersucht, Verunsicherung oder Verbundenheit.
Herman van de Wijdeven:
„Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen”. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Mixtvision Verlag, München 2025, 176 Seiten, 16 Euro. Ab 11 Jahre
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Auch in dem Roman „Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen“ werden Eifersucht und Rivalität zu starken Gefühlen, die Bent und Juris Freundschaft auf gefährliche Weise zu beschädigen drohen. Die Elfjährigen leben in einem kleinen niederländischen Dorf zwischen Poldern und Deichen. Täglich treffen sie sich dort in den Gassen, an der Zugbrücke oder dem Kanal. Fast immer passiert dann etwas Lustiges oder Spannendes.
„Traust du dich?“ Mit dieser Frage forderte Juri seinen Freund dann erstmals vor zwei Monaten auf, heimlich am Brückenwärterhäuschen vorbei über das hohe Geländer zu balancieren. Seitdem gehören Mutproben auf den Streifzügen zu ihren Routinen.
Hannah Brückner: „Kolossale Katastrophe”. NordSüd Verlag, Zürich 2025, 40 Seiten, 18 Euro. Ab 4 Jahre
Einfühlsam schildert Herman van de Wijdeven die inneren und äußeren Ereignisse der Erzählung aus der Perspektive von Bent. Der lebt mit seiner Mutter allein, und die Stimmung ist bei ihnen oft etwas bedrückt. Auf keinen Fall möchte er ihr Kummer bereiten. Ein ganz anderer Typ ist sein bester Freund Juri, manchmal aufbrausend und viel mutiger als Bent. Juri ist es gewohnt, als Erster vorauszugehen.
Als zu Beginn des Schuljahres ein Neuer in ihre Klasse kommt, versteht Bent die Welt nicht mehr. Finn, ein blasser Junge mit hoher Stimme, wird in die erste Reihe neben Juri gesetzt. Sofort scheinen die beiden sich prächtig zu verstehen. Immer deutlicher fühlt sich Bent bald in der neuen Dreierkonstellation von seinem besten Freund zurückgesetzt und verraten. „Ich will das nicht, dachte ich, ich will das wirklich nicht. Ich hätte nie mitgehen sollen.“ Doch die quälende Eifersucht macht es dem Jungen unmöglich, sich Juris immer extremeren Mutproben und Machtspielen zu entziehen.
„Gestern“, „Heute“, „Vor zwei Monaten“ oder „Letzte Woche“ titeln Titel des Romans. Herman van de Wijdeven erzählt von den dramatischen Entwicklungen dieser Freundschaft nicht chronologisch, sondern springt zwischen den Ereignissen vor und zurück. Wie Puzzleteile fügen sich die einzelnen Szenen wirkungsvoll zu einem komplexen Ganzen. Damit gelingt dem niederländischen Jugendbuchautor das große Kunststück, das vielschichtige Porträt des Konflikts vor dem Hintergrund einer Landschaft in ein atemraubendes Abenteuer zu verwandeln.
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