: Kein unnötiger Bierernst
■ „Berlin Bertie“ hat heute Premiere im Theater im Zimmer
In einer verschlampten Wohngemeinschaft im übelsten Londoner South-End stoßen zu Ostern 1990 die frisch aufgebrochene deutsche Vergangenheit und das desillusionierte Armutspotential des kapitalistischen Thatcher-Englands aufeinander. Die Protagonisten: Fünf extreme Charaktere. Da ist Alice, die suspendierte Sozialarbeiterin, verzweifelt und drogensüchtig, Rosa, ihre Schwester und christliche Kämpferin im DDR-Sozialismus, der bedrohliche Stasi-Spitzel Berthold Brecht, der sie verfolgt und begehrt.
Aus dieser kurios anmutenden Persönlichkeiten-Mixtur, die noch mit zwei ziemlich kaputten Gestalten aus dem Londoner Sozial-Schlammassel angereichert wird, dem politischem Zeitgeschehen ein Jahr nach dem Mauerfall und psychischem Elend entwarf der englische Autor Howard Brenton seine derbe sozialkritische Stasi-Klamotte Berlin Bertie. Heute ist die Hamburg-Premiere des Stückes im Theater im Zimmer.
Regisseur Gerhard Hess legt Wert auf die psychologische Komponenten des Stückes: „'Berlin Bertie' lebt von der Wechselwirkung unter den Figuren“, sagt der 46jährige. Seine Proben gleichen zuweilen Psycho-Settings: Die Schauspieler – unter anderem Julia Bleichinger als Alice und Dietrich Hollinderbäumer als Bertie – müssen improvisieren, spielen ohne sprachliche oder dramaturgische Vorlagen willkürliche Szenen, riskieren Fehler, Patzer, Peinlichkeiten, um sich den Charakteren zu nähern. Hess übt in Sequenzen, die er aus dem Textgefüge herausgreift, wirft Fragen auf wie: Was sagen wohl die (imaginären) Eltern zu den Personen? Aus den Tagesproduktionen wählt Hess aus: „So verfestigt sich die Handlung, und wir verfügen über ein großes Arsenal von Möglichkeiten zu der Gefühlswelt der einzelnen Figuren“.
Die teilweise vulgäre Milieu-Sprache Brentons wurde für die Hamburger Bertie-Inszenierung nicht verändert, der Text wurde lediglich um 15 Prozent gekürzt. Der Wahlhamburger und ehemalige Kieler Oberspielleiter Hess traut dem Publikum: „Brentons Sprache ist die realistische Sprache der Menschen aus dem Milieu. Wir schocken ja nicht zum Selbstzweck“. Die Zuschauer seien zudem häufig offener, als man ihnen zutraut, so Hess. Wichtig ist ihm, die Geschichte und Biographien der Menschen aus Berlin Bertie so zu erzählen, daß sie zum Nachdenken anregen: „Wenn das Publikum den Personen folgt, sie nach und nach entdeckt, feststellt, das sie nicht so sind, wie man es sich beim ersten Kennenlernen vorstellte, dann ist die Aufführung gelungen.“
Das Theaterstück Berlin Bertie, das Brenton inspiriert durch Erlebnisse ostdeutscher Freunde 1991 schrieb, erfuhr bei den deutschen Erstaufführungen in Berlin und Lübeck recht unterschiedliche Interpretationen. Die auf die eigene politische Vergangenheit ausgerichtete Vorstellung des Deutschen Theaters in Berlin geriet zum Flop. Zu spröde und steif war das Spiel, schwer verständlich dadurch der Inhalt. Die Lübecker Inszenierung bewies Mut, die sprachliche Vitalität des Originals auch darstellerisch umzusetzen und ließ auch die britische Komik Brentons zu. Hess verrät vor der Premiere schon eines: „Es wird kein bierernstes Lehrstück. Brenton ist kein Moralist.“
Katrin Wienefeld
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen