piwik no script img

Katrin Seddig Fremd und befremdlichEs ist richtig und wichtig, Kinder über Sexualität aufzuklären

Foto: Lou Probsthayn

Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Und wieder hat einer die Nachbarskinder missbraucht. Ein 49-jähriger Mann wurde in Flensburg verurteilt. Es war schon zu meiner Zeit, als ich ein Kind war, meistens der Nachbar, der Onkel, der Freund der Familie. Oft genug auch der Opa, der eigene Vater. Ich kenne kaum jemanden, der nicht mit solchen Dingen in seiner Kindheit zu tun hatte. Und als ich selbst einst dabei war, solch einen Mann bei anderen Erwachsenen anzuschwärzen, da wurde nur erschrocken getuschelt. Leise sollte man sein, vorsichtig, denn dieser Mann sei ja doch ein angesehener Mensch mit Familie, Frau und Kind. Da könne man ja nicht. Da müsse man erst einmal. Und das Ungeheuerliche wurde dem Kind, mir also, aufgeladen, das so etwas besser nicht erzählen solle.

Solche ungefähren Geschichten können viele meiner Generation erzählen. Heute ist es, trotz aller Aufklärung, nicht viel einfacher für ein Kind, den Nachbarn anzuzeigen. Noch viel weniger einfach, den eigenen Onkel, Großvater, Vater. Und dann macht es mich ziemlich wütend, wenn ich daran denke, dass diese Kinder immer wieder und wieder zu diesem Nachbarn gehen konnten, um dort von ihm missbraucht zu werden. Warum konnten diese Kinder nicht beschützt werden? Und das ist natürlich ein sehr komplexes Thema, warum Kinder so etwas tun und warum sie nicht beschützt werden konnten. Warum man vor allem als Eltern nicht weiß, dass so etwas geschieht.

Denn Kinder im Alter von 9 und 8 Jahren können ja schon reden. Ich meine, wenn einer einem Kind auflauert und ihm Gewalt antut, dann kann das Kind da nichts tun, da helfen auch keine Selbstverteidigungskurse oder Aufklärung. Aber warum teilt es sich nicht mit? Wo ist der Fehler? Was kann man dagegen tun? Ich meine, ganz allgemein. In der Schule, im Kindergarten, in der Erziehung. Ich habe mich bemüht, meinen Kindern eine klare Antwort auch auf die unangenehmsten, peinlichsten Fragen zu geben. Über alles muss man, mit einem Kind, wenn es danach fragt, reden können. Es muss natürlich sein, darüber zu reden.

Als ich als Kind einmal ein Kondom fand, da waren meine Eltern nicht bereit, mir zu erklären, was man mit einem solchen Teil tut, wofür es da ist. Das waren Dinge, die ein Kind nicht wissen sollte, und es war rasch klar, dass man darüber besser nicht reden sollte. Es gab eine Menge Dinge, über die man besser nicht redete, weil sie unglaublich peinlich waren, unangenehm, weil man selber irgendwie diesen Schmutz an sich dran hatte, wenn man darüber redete. Aus diesem Grund redete man auch nicht mit seinen Eltern über sexuelle Dinge, man holte sich seine Informationen bei anderen Kindern, bei älteren, die höchst zweifelhaft waren und den Nimbus des Obszönen, Verbotenen noch vergrößerten.

Ist es jetzt aber nicht anders? Darf man jetzt nicht über alles sprechen? Ich kannte mal ein Elternpaar, deren Kind hatte kein Wort für sein Geschlecht. Das ist nicht gut, sagte ich diesen Eltern. Ein Kind muss sein Geschlecht benennen können. „Wozu?“, fragten diese Eltern. Und da ist wieder dieses Unbehagen: Mein Kind soll am besten kein Geschlecht haben. So denken manche Eltern. Es soll sich nicht anfassen, keine Lust empfinden und keine Neugier entwickeln. Es soll rein und geschlechtslos sein, ­feenhaft, bis es wenigstens 21 ist, ungefähr. „Sexuelle Früherziehung“ würde das Kind sexualisieren, meine diese Eltern. Als wäre nicht ein Kind ein sexuelles Wesen, von Anfang an.

Über alles muss man, mit einem Kind, wenn es danach fragt, reden können

Ist es aber nicht eher diese „Entsexualisierung“, die das Kind bedroht? Ist es nicht das aufgeklärte Kind, das ankommt und sagt: „Dieser Mensch hat mich am Pimmel angefasst, ich möchte das nicht.“ Ich weiß, das ist nicht alles, und ein missbrauchender Mensch nutzt viele Tricks, um auch aufgeklärte und selbstbewusste Kinder an sich zu binden. Dennoch machen sie es ihm schwerer. Und nicht nur aus diesen Gründen ist es richtig, Kinder aufzuklären. Es ebnet ihnen den Weg, ihre eigene Sexualität, auch jenseits von heteronormativen Vorlagen, ohne Schuldgefühle, einst auszuleben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen