Katholischer Philosoph Jürgen Manemann: "Die Anteillosen unterstützen"
Jürgen Manemann ist seit kurzem Direktor des katholischen Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover. Ein Gespräch über die Atomlobby in seinem Heimatort Lingen und den politischen Auftrag der Kirche.
taz: Herr Manemann, wie halten Sie es mit Tieren?
Jürgen Manemann: Ich habe einen Hund und würde mich als tierlieb bezeichnen. Warum fragen Sie?
In Ihrer Antrittsvorlesung sagten Sie, dass die Verletzbarkeit des Menschen für Sie zentral ist, nicht sein geistiges, sondern sein kreatürliches Wesen.
Aufgewachsen in Lingen im Emsland, studierte Manemann katholische Theologie in Münster. Seine Doktorarbeit schrieb er beim Doyen der neuen politischen Theologie, Johann Baptist Metz. Nach einem Forschungsaufenthalt in New York lehrte er katholische Theologie in Münster und Erfurt. Seit Ende 2009 ist Manemann Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (FIPH). Die katholische Institution war 1988 vom Hildesheimer Bischof Josef Homeyer gegründet worden und erforscht "zentrale Probleme der gegenwärtigen Welt".
Ja, die Leiderfahrung verbindet uns miteinander - und auch mit den Tieren. Mein Hund ist ja nicht nur in der Lage, Schmerzen zu empfinden; er merkt auch, wenn ich Schmerz empfinde. Im Unterschied zu mir kann er aber nicht aus dieser Leidensfähigkeit eine Verantwortung fürs Ganze entwickeln.
Was heißt das für uns?
Ich bin der Auffassung, dass wir alle mehr oder weniger auf eine vegetarische Lebensweise zusteuern. Weil uns zunehmend bewusst wird, welche Fähigkeiten Tiere zum Fühlen und Mitfühlen besitzen. Und je mehr wir dafür ein Verständnis entwickeln, desto weniger sind wir in der Lage, sie zu schlachten und zu essen.
Essen Sie denn Fleisch?
Hin und wieder, ich bin da in einem Widerstreit zwischen Wissen und Handeln. Das ist auch eines der aktuellen Probleme, unter dem wir alle zunehmend leiden. Wir wissen vieles, aber handeln nicht danach. Wir wissen etwa, dass die Klimakatastrophe nicht etwas ist, das uns droht, sondern dass wir uns bereits mitten in der Katastrophe befinden. Und wir tun trotzdem viel zu wenig.
Woran liegt das?
Zum Handeln gehört mehr dazu als bloßes Wissen. Wissen muss zur Erkenntnis werden, denn von der Erkenntnis geht ein Anspruch aus. Zwar können wir diesem Anspruch widerstehen, wir können ihm aber nicht in dem Sinne widersprechen, dass wir ihn aus unserer Welt tilgen. Wir spüren diesen Anspruch sogar als körperliches Unwohlsein. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch macht der Körper der Vernunft klar: Etwas stimmt hier nicht. Du musst dich ändern.
Ist das der Weg, mit dem Sie auch zum Katholizismus gefunden haben?
Nein, der ist mit meiner Sozialisation im katholischen Emsland verbunden. Ich wusste so ungefähr mit 16, dass ich katholischer Theologe werden will.
Woher kommt so ein Wissen in jungen Jahren?
Ich habe die katholische Kirche als den Freiraum erlebt, in dem ich autonomes Subjekt werden konnte. Ich weiß, dass andere Menschen andere Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben, aber ich persönlich kann Freisein und Katholisch-Sein in meiner Erfahrung nicht trennen.
Wie bitte?
Ich komme gebürtig aus Lingen, und Lingen hatte zwei Atomkraftwerke. Wie viele andere Jugendliche in den Gemeinden war auch ich damals sehr stark in der Anti-AKW-Bewegung und der Friedensbewegung engagiert. Und das war heikel: Die Atomlobby rückte dann an und wurde bei Eltern vorstellig; auch wenn diese nicht selbst schon Teil der Atomindustrie waren, weil sie in den Werken arbeiteten. In dieser Situation hat uns die Kirche immer unterstützt.
Wie hat sie das getan?
Wir hatten einen älteren Priester, der sagte den Eltern, er verstehe die Jugendlichen zumeist nicht, aber er wisse dennoch, dass das, was die Jugendlichen machten, für sie von großer Bedeutung sei und deswegen zum Ausdruck gebracht werden müsse.
Was musste nach Ihrer Schulzeit zum Ausdruck gebracht werden?
Ich fing an, Theologie zu studieren, bin aber gleich zu Beginn auf einen Umweg geraten: Meine damalige Freundin und jetzige Frau hielt es für eine gute Idee, in ein Kibbuz zu gehen, und ich, sie zu begleiten. Erst dort habe ich gemerkt, was es heißt, deutsch zu sein. Da gab es beispielsweise Israelis, die perfekt deutsch sprachen, es aber vorzogen, mit mir englisch zu sprechen. Erst in der Begegnung mit Überlebenden habe ich wirklich begriffen, dass Auschwitz noch mehr und noch anderes ist als Faschismus.
Welche Konsequenzen haben Sie aus dieser Erkenntnis gezogen?
Zurück aus Israel habe ich die Vorlesungen von Johann Baptist Metz gehört, dem Begründer der neuen politischen Theologie, die eine Theologie nach Auschwitz ist.
Das heißt?
Die Frage war: Wie konnte es kommen, dass Gläubige im "Dritten Reich" Gottesdienste abhielten, beteten - und dabei gleichgültig blieben gegen das Vernichtungsgeschehen um sie herum? Das lag daran, so die politische Theologie, dass die katholische Theologie sehr stark eine Siegertheologie war. Die Leidensgeschichten der Menschen spielten dagegen kaum eine Rolle. Metz kritisierte, dass Christen die Katastrophen immer wie ein abziehendes Gewitter betrachteten. Man hört noch den Donner, aber das Gewitter ist verzogen, und dann kann alles weitergehen.
Und die politische Theologie?
Insistiert gegen dieses "Weiter-so!", dass die Katastrophen sich wiederholen, darauf, dass wir aus dem Blickwinkel der Opfer auf die Welt schauen müssen.
In Ihrer Antrittsvorlesung haben Sie über die positiven Möglichkeiten politischer Gestaltung gesprochen.
Wir erleben ja zurzeit eine gewisse Renaissance der politischen Philosophie, sind aber andererseits damit konfrontiert, dass Politik so gut wie keine Rolle mehr spielt. Wir brauchen deshalb einen neuen Diskurs darüber, was das Politische ist, damit wir die alten Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit neu stellen können. Das ist ja seit je der Auftrag der katholischen Kirche gewesen, der es darum geht, das Leben zu erhalten und lebenswerter zu machen. Das kann sie nur, wenn sie sich in das Feld des Politischen einbringt.
Ist nicht der Glaube Privatangelegenheit?
Natürlich gibt es eine Staatspolitik, und in die soll sich die Kirche auch nicht einmischen. Aber über das rein Private geht die Kirche immer schon hinaus. Sie agiert in dem Feld der Zivilgesellschaft; sie soll auf der subpolitischen Ebene Politik treiben, eine Politik der Störung, die die eingefahrenen politischen Sachgebiete positiv destabilisiert.
Zum Beispiel?
Die Illegalen: Jeder weiß, dass sie unter uns leben, aber an ihrem prekären Status hat die Politik bislang nichts ändern wollen. Die Subpolitik ist der Ort, an dem man auf das Leiden dieser und anderer Ausgeschlossener aufmerksam, sie zum gesellschaftlichen Thema machen muss. Die Anteillosen zu unterstützen, ihren Anteil geltend zu machen, ihnen eine Stimme zu geben: darin sehe ich die Aufgabe der Theologie und der Kirche.
Klingt, als wiesen sie der Kirche die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition zu.
So ließe sich das sehen. Es ist jedenfalls zutiefst beunruhigend, dass das, was viele Menschen gegenwärtig erleiden, heute kaum noch zur Sprache kommt. Dass so wenig Menschen auf die Straße gehen, sollte uns nicht beruhigen, sondern beunruhigen. Denn es zeugt davon, dass wir an politische Gestaltung, an Veränderung, an einen Neubeginn gar nicht mehr glauben. Apathische Hoffnungslosigkeit ist das Signum unserer Zeit.
Womit die christliche Religion, die doch immer auch als Abkehr von dem Jammertal der Welt verstanden worden ist, lange gut zurechtkam.
Tatsächlich hat die Kirche in der Geschichte oft nicht emanzipatorisch, sondern hemmend gewirkt, und tut dies zum Teil bis heute. Aber auf Basis der biblischen Traditionen kommen wir zu einem anderen Verständnis, zur Offenheit des Christentums gegenüber der Welt. Wer von der Welt nichts versteht, hat Thomas von Aquin schon gewusst, der versteht auch von Gott nichts.
Wie verstehen Sie denn die Welt?
Ein Weg ist die Philosophie. Ich leite ja ein Forschungsinstitut für Philosophie - weil diese Disziplin essentiell für die katholische Kirche ist: Weil die Philosophie Welt denkt, Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, weil sie jegliche Vollmundigkeit eines Immer-schon-Wissens durchbricht.
Folgt aus dieser Weltoffenheit, dass man als Christ modern sein muss?
Was heißt modern? Ich würde sagen: Die Moderne ist der Versuch, Singularitäten oder Einzigartigkeit denken zu können und anzuerkennen; genauer: den Anderen in seinem Anderssein anzuerkennen. Das ist für die katholische Kirche entscheidend. In dem Sinne ist sie höchst modern.
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