Katharina J. Cichosch High & Low: Unmögliche Reisen, verpasste Schauen
Der Jahresrückblick ist vielerorts Sache der Festangestellten. Diese Kolumne könnte stattdessen ein (spekulatives) Best-of der verpassten Ausstellungen sein. Oder vielleicht auch der nicht besprochenen.
Ganz vorn dabei wären sicherlich zwei Sommerschauen: Jana Eulers „Oilopa“ im Brüsseler WIELS, zum Beispiel, oder „Go make thyself like a nymph o’ th’ sea“, eine Ausstellung von Tina Kohlmann im Regensburger Stadtraum, den die Künstlerin in einem Shakespeare’schen Twist von Wassernixen besuchen ließ. Nach Einbruch der Dämmerung floureszierten die monströs-freundlichen Wesen magisch in ihren mannsgroßen Schaukästen.
Nicht verpasst, aber ebenso nicht rezensiert: die kleine Schau „Down The Rabbit Hole“, gesehen dieses Frühjahr im litauischen Vilnius. Eine Ausstellung als ironischer Seitenhieb auf das um sich greifende Neo-Schamenentum, Selflove und völkisch-esoterische Umtriebe, die dem Gegenstand ihrer Kritik als Faszinosum und künstlerisches Sujet trotzdem einiges abgewinnen konnte.
Warum verpasst oder nicht besprochen? Zeitmangel, unmögliche Reiserouten mit der Deutschen Bahn, und dann finden die inhaltlich leichter zu verschlagwortenden Ausstellungen natürlich schneller Anklang. Die Kunst muss aufmerksamkeitsökonomisch mit anderen Sinnstiftern mithalten.
Katharina Cichosch lebt in Frankfurt am Main und schreibt hier regelmäßig über Kunst.
Dabei gibt es an einer Sache derzeit doch wirklich keinen Mangel, in der Kunst wie im Journalismus, und das sind Thesen oder vielmehr Slogans. Auf Nachhaltigkeit und Frieden* können sich noch alle einigen, auch die größten Autokratien (viel Kritik an deren Nutzung der Softpower-Kultur findet man im sich gern kritisch verstehenden Thesenkunstbetrieb eher nicht).
Im selben Maße, in dem die Kulturbranche und vielleicht am stärksten noch die Kunst als Heilsbringer oder Ersatzveranstaltung für reale Politik in Beschlag genommen wird – was sich nicht unbedingt monetär widerspiegelt –, scheint das Interesse an tatsächlicher Kunsterfahrung abzunehmen.
Aber vielleicht ist auch das nichts Neues, „Kunst interessiert keine Sau“, wusste Sandra Danicke ja schon 2011 mit ihrem gleichnamigen Buch. Außer eben, siehe oben. In dieser Zeitung musste sie sich mit den anderen Künsten immer schon nicht nur den Namen teilen, sondern auch den Platz. Was in Ordnung geht. Aber ein zweites taz-Lieblingsformat neben dem Jahresrückblick, der Rundgang durch die Berliner Galerien, wäre mit einer anderen Stadt redaktionell wohl undenkbar. Zu nischig, zu viel Kunst um der Kunst willen, vielleicht auch zu kommerziell.
Dabei dürfte es etlichen Galerien jenseits des sechs- und mehrstelligen Blue-Chip-Markts, bei dem Sammler einkaufen, auf was sich eh schon jeder geeinigt hat, wirtschaftlich derzeit kaum besser gehen als dem durchschnittlichen Kunstverein. Doch einige der interessantesten, noch nie besprochenen Künstlerinnen entdeckt man zuerst hier.
Am vermeintlich entgegengesetzten Ende des thesenverliebten Kunstformats verorten ließ sich dann noch diese Aufführung: eine Open-Air-Videoprojektion mit einer Filmarbeit im Loop von Refik Anadol, bekannt für seine AI-unterstützten Bilderreigen. Einige fanden das himmlisch oder fürchterlich oder belanglos, aber es erstarrte niemand in falscher Ehrfurcht, wie man sie beim Abnicken von Wandtexten öfters beobachten kann. So eine offensiv neoliberale Angelegenheit bot offenbar zumindest noch die Freiheit zum ästhetischen Individualurteil. Im Zweifel halt: „It’s ugly“, wie eine junge Besucherin beim Verlassen der Projektion bilanzierte.
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