Kapitalismus-Irsinn aus USA: Chef-Huldigung am "Boss Day"
Traditionell huldigen am "Boss Day" viele Arbeitnehmer in Amerika - ihrem Chef. Ein Symptom dafür, was falsch läuft in der Heimat des Kapitalismus.
"Bussi, bussi, Boss - Wie schön, dass es dich gibt!" Solche oder ähnliche Sätze werden heute in den USA in zahlreichen Büros zu hören sein. Chefs wundern sich nicht, wenn sie ihre Sessel unter lauter frischen Blumen, Geschenken oder einem Stapel bunter Karten kaum noch finden können. "Happy Boss Day" heißt es an diesem Feiertag, den nicht der Staat und keine Religion, sondern nur das Gesetz des Berufsdschungels diktiert: Großen Tieren wird gehuldigt - und das, obwohl es amerikanische Bosse nach Ansicht von Arbeiterorganisationen eigentlich gar nicht verdient haben.
Die Versicherungsangestellte Patricia Bays Haroski aus dem Bundesstaat Illinois war es, die den "Boss Day" als freiwilligen Feiertag 1958 bei der Handelskammer registrieren ließ. Den 16. Oktober wählte sie, weil es der Geburtstag ihres Vaters war - und der war gerade ihr Boss. "Haroski war der Meinung, dass besonders junge Mitarbeiter oft nicht registrieren, wie hart es für einen Boss ist, im Geschäft zu bleiben und die ganze Mannschaft durchzuziehen", erklärt Anne Myers, eine Versicherungsangestellte in Washington. Sie mag die Idee des "Boss Day" und hat sich fest vorgenommen, ihrem Chef mit einer Schachtel Pralinen für den fairen Umgang im vergangenen Jahr zu danken. "Wir wollen von unseren Chefs gelobt werden - warum also nicht mal die Chefs von uns?", fragt sie.
Steven, ein Computerexperte, hat sich hingegen für die saloppere Variante entschieden. "To the big Cheese" (statt Chief) steht auf der Klappkarte, die sein Chef zwischen den Bilanzen auf seinem Schreibtisch finden wird. Steven hat die Karte sorgfältig aus dem meterlangen Regal des Postkartengeschäfts gefischt, das ganz offenkundig auch geschäftlich vom Ehrentag der Bosse profitiert. "Schön, mit dir zu arbeiten!" oder "Du hast mal eine Entspannung verdient!" steht da unter abgebildeten Bierhumpen oder Blumen tragenden Bärchen, die große Augen machen. Kein Wunder beim Anblick von Sprüchen, denen keine Sentimentalität zu peinlich zu sein scheint.
Aus der BossMan-Pflegeanleitung: "Bedenke, dass BossMan die meisten Muskeln in seinem Kopf, in seinem Ego und in seinem Team hat. Um ihn nicht zu überlasten, sollte ihm daher nicht zu viel Gewicht zugemutet werden. Er kann keine Autos heben oder über hohe Gebäude springen. Aber er kann einen Brainstorm in seinem Team auslösen."
BossMans Waffen: Gesichtsmasken (froh, sauer, ernst) unterhalten die Beschäftigten mit "bossy" Stimmungsschwankungen oder Persönlichkeitsdefiziten. Zigarre, der Managementstummel, wird mit Dollarnoten oder Zetteln aus der Kummerbox der Angestellten angezündet.
"Es ist deine Voraussicht und Leitung, die mich inspiriert, nach Höherem zu streben - danke, Boss!", so die neue Arbeiterpoesie im Land der Tellerwäscher und Millionäre. "Die Leute finden das überhaupt nicht peinlich", sagt Mira, eine Angestellte im Kartenladen. "Es gehört zu unserer Kultur, dass wir uns gegenseitig bei allen bedanken."
So lernten bereits amerikanische Schulkinder ihre Lehrer zu schätzen, indem sie und ihre Eltern einmal im Jahr einen Dankeslunch für diese gestalteten. "Das setzt sich immer weiter fort."
Feuchte Augen vor Dankbarkeit sollte auch so mancher Chef bekommen, denn das Sortiment der gängigen Geschenke ist vielfältig. Geschäfte und Internetanbieter werben für schrille Chefkrawatten, geschmacklose Kaffeetassen, individuelle Mousepads oder kitschige Schreibtisch-Accessoires - Ähnlichkeiten der Aufschrift mit gleichnamigen Modefirmen sind rein zufällig. Verspielte Vorgesetzte dürfen sich sogar eine Puppe wünschen: "BossMan" heißt der kleine Superstar aus Plastik, den der Hersteller namens "Happy Worker" speziell zum Feiertag anbietet. Neben "SuperMom", "MoneyMan" und einem Computerfreak in der Kollektion scheint der Anzugträger mit dem korrekten Seitenscheitel am besten zu laufen. Zu seinen Accessoires gehören Gesichtsmasken für "bossy" Gefühle wie Wut oder Ärger, eine Zigarre und - neben dem Handy - auch ein dickes rotes Megafon. Dieselbe Firma hat auch ein passendes Poster entworfen: "BossMan wants you - Sei ein glücklicher Arbeiter!" Das wiederum ist eine Forderung, die immer weniger US-Bürger erfüllen können. Denn nicht nur, dass im September in den USA knapp 10 Prozent aller Arbeitswilligen ohne Job waren - es haben auch die, die überhaupt noch arbeiten können, davon immer weniger.
Dem Banken- und Versicherungsboss, der sich im Schatten der Rezession seine Millionenabfindung verkneifen muss, geht es da genauso an den Kragen wie dem Fließbandarbeiter bei General Motors. Vorbei nämlich die goldenen Zeiten, in denen ihr Arbeitgeber 17 Millionen Dollar im Jahr investiert hat, um - Tatsache! - seine Angestellten kostenlos mit Viagra zu versorgen. Mit der Autoindustrie kollabiert so manche Zusatzleistung.
Doch auch bei Grundsätzlichem sieht es düster aus, wie immer mehr Angestelltenorganisationen bemängeln. Das Land des "American Dream" habe sich bereits in den acht Jahren der Bush-Regierung für manchen Arbeiter zum Albtraum entwickelt. Die Wirtschaftskrise tue nun noch das ihre dazu. Zum Labor Day im September hatten verschiedene US-Stiftungen eine Studie veröffentlicht, nach der es US-amerikanischen Arbeitern schlechter geht als in den drei Jahrzehnten zuvor.
So sollen vor allem Niedriglohn-Empfänger von den Arbeitgebern regelmäßig um ihre Überstundenbezahlung betrogen worden sein. Rund ein Drittel erhält nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 7,25 Dollar die Stunde. "Wer aufmuckt, fliegt raus", sagt dazu Josh Goldstein, Sprecher der gewerkschaftsnahen Organisation American Rights at Work.
Das gelte nicht nur für Lohnangelegenheiten. Das gelte vor allem für die Organisationsfreiheit in den Betrieben. Goldsteins Organisation weiß einer eigenen Studie nach, dass alle 23 Minuten ein Arbeiter oder Angestellter in den USA wegen gewerkschaftlichen Engagements auf die Straße gesetzt wird. Dreißig Prozent der Arbeitgeber kündigen demnach Anführern einer Gewerkschaftsbewegung, und neun von zehn Bossen zwingen ihre Beschäftigten zu unmissverständlichen Vieraugengesprächen über Gewerkschaften, sollte sich einer im Betrieb organisieren wollen. Kein Wunder, dass heute in den USA nur noch etwa 7,5 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sind.
Unter George W. Bush waren die Rechte der Gewerkschaften in den USA immer weiter beschnitten worden. Als Barack Obama sein Erbe antrat, wollte er das ändern und die Rolle der Arbeiterverbände im Land wieder stärken. Obama unterstützt einen im April im Kongress wieder eingeführten Gesetzesvorschlag, den "Employee Free Choice Act" (EFCA), der Beschäftigten das Recht gewährleisten soll, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der Präsident setzte sogar eine Kommission zur Stärkung der Rechte des Mittelstands inklusive der Gewerkschaften ein - unter Schirmherrschaft seines Vize Joe Biden.
"Doch bis sich da tatsächlich etwas spürbar verändert, ist es ein langer Weg", meint Goldstein von der Arbeiterrechtsorganisation. Eine mächtige Unternehmerlobby, die Republikaner im US-Kongress - aber auch eine Reihe konservativerer Demokraten stellt sich wacker gegen die Interessen der Arbeitnehmer.
Warum auch am Status quo etwas ändern, wo doch alles bestens läuft? Fünfzig bis 60 Arbeitsstunden in der Woche sind keine Seltenheit, knappe zwei Wochen Jahresurlaub normal. Die Organisation Working America verweist darauf, dass amerikanische Arbeiter die fleißigsten unter denen der Industrienationen seien - mit einem Jahreseinkommen von 13 Billionen Dollar. Die Organisation, in der sich zehn Millionen Gewerkschafter und mehrere Millionen nichtorganisierte Beschäftigte für die Interessen der Arbeiter einsetzen, beklagt wie viele andere die Unterbezahlung. Seit 1973 hätten Arbeiter die Produktivität der US-Wirtschaft merklich erhöht, doch ihre Löhne seien mager geblieben.
So lägen die Durchschnittslöhne heute etwa 15 Prozent über denen von 1980 - die Produktivität sei hingegen um 67 Prozent gestiegen.
Ähnliches kritisiert auch Jared Bernstein vom liberalen Economic Policy Institute. Der Zeitung USA Today sagte Bernstein: "Viele Berufe, mit denen man noch vor zehn Jahren gut leben konnte, sind heute zu Niedriglohnjobs geworden." Immer mehr Menschen mit Vollzeitjobs kämen ohne Hilfe nicht über die Runden: "Wir müssen sicherstellen, dass der amerikanische Traum wieder lebbar wird. Wer arbeitet, soll auch davon leben können."
Working America hat dafür den passenden Wettbewerb ausgeschrieben: "My Bad Boss" heißt er. Die Gewinner aus Hunderten von Einsendungen, in denen auch keine Firmen oder Namen genannt werden dürfen, werden jedes Jahr pünktlich zum 16. Oktober ermittelt. Happy Boss Day!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern