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Archiv-Artikel

Kapitäne und Brüder

ITALIEN Maike Albath beschreibt den kurzen historischen Moment, in dem Fabrik und Verlag Turin zu einer utopischen Stadt machten

VON AMBROS WAIBEL

Bemerkenswert, aber letztlich unmittelbar einleuchtend an den italienischen Verhältnissen ist dies: Ein Land, das einen Silvio Berlusconi hervorgebracht hat, bekam vorher einen Pier Paolo Pasolini geschenkt; und der wusste schon, wie die Zukunft sein wird, als der Cavaliere noch mit der ursprünglichen Akkumulation beschäftigt war, dass nämlich die stetige Weiterentwicklung der Produktionsmittel ohne gleichzeitigen zivilisatorischen Fortschritt in die Barbarei führt.

Es ist der Zustand, der einem auch aus Ländern der ehemaligen Dritten oder Zweiten Welt zu Ohren kommt. In meist durch den Abbau von Rohstoffen zu Wohlstand gekommenen Städten gibt es kein Theater und keine öffentliche Bibliothek, kein Kino jenseits der Blockbuster und kein Konzerthaus – Einrichtungen, über die diese Städte durchaus verfügten, als sie ärmer waren und als die Idee, dass Entwicklung und Fortschritt zusammengehörten, virulent war. In ihrem lesenswerten Buch „Der Geist von Turin“ rahmt Maike Albath hingegen eine konkrete historische Situation ein, in der für etwa vier Jahrzehnte Menschen sich nicht unheroisch an dieser Synthese versuchten. Fixpunkte sind dabei die Fiat-Autofabrik Lingotto und der Verlag Einaudi.

Lingotto wurde 1916 geplant und war 1923 fertig. Im Auftrag des Firmengründers Giovanni Agnelli und nach dem Vorbild Henry Fords baute der futuristische Architekt Giacomo Mattè Trucco eine spektakuläre Produktionsanlage, die Turin auf einen Schlag zur modernen Industriemetropole machte. Eine kleine, intelligente Gruppe von Industriekapitänen („die einzigen, die sich – im ökonomischen Sinn des Wortes – bürgerlich nennen dürfen“, schrieb der Sozialist Piero Gobetti ) hätte den Anstoß geben können für die Industrialisierung des in weiten Teilen noch im Analphabetismus schlummernden Italien. Aber das Turiner Werk mit (und wegen) seiner organisierten Arbeiterschaft blieb eine Ausnahme auf der Halbinsel. Anstatt das Land umzugestalten, halfen die Agnellis Mussolini an die Macht, der ganz genau wusste, warum er ihnen gegenüber eine Politik der wohlwollenden Nichtbeachtung und des Protektionismus verfolgte.

Moderne Makulatur

Dass zehn Jahre später, schon unter dem gefestigten Faschismus, Giulio Einaudi und seine „Bruderschaft“ (Leone und Natalia Ginzburg, Cesare Pavese, Norberto Bobbio, Carlo Levi, später Italo Calvino) einen Verlag ebenhier gründeten, war dagegen kein Zufall. Turin war das Fenster nach Europa, den USA und der UdSSR, hier stellten sich die globalen Fragen der Epoche; und dieses moderne Leben und Denken in Fabrik und Verlag sollte einwirken auf den Rest Italiens. Das sich in konkreten Lohnkämpfen und später in der Resistenza gegen die Deutschen und die italienischen Faschisten bildende Bündnis von Arbeitern und Intellektuellen hat als Abglanz noch bis in die 1980er-Jahre gestrahlt; es war diese Verbindung, die linke Polittouristen von jenseits der Alpen scharenweise ins gelobte Land eines utopischen, mediterranen Sozialismus führte – utopisch schon deswegen, weil Turin nun wirklich nicht am Meer liegt.

Der Faschismus konnte dieser Vereinigung wenig anhaben, der Boom, der mit amerikanischen Antikommunismus-Milliarden aus der armen „Italietta“ einen der weltweit führenden Industriestaaten machte, hingegen schon. Die Arbeiter bekamen neben anderen schönen Dingen das Privatfernsehen und hörten auf – im klassenspezifischen Sinn –, Arbeiter zu sein; die Intellektuellen warfen mit dem Zusammenbruch des Sozialismus auch gleich die solidarische Gesellschaft über Bord. 1994, am Ende dieser Entwicklung, wurde Einaudi, der Suhrkamp-Verlag Italiens, Teil des Medienimperiums von Berlusconi. Und doch kann man mit einem Gedicht Eugenio Montales fragen, ob hier nicht eine Menge Zeit verschwendet wurde, wo das Ende doch vorhersehbar war. Denn zwischen dem Proletariat und der intellektuellen Elite klaffte ein dunkles, vulgäres Loch: das italienische Kleinbürgertum, welches sich gegen jede geistige Anregung immun zeigte und von Mussolini über die Democrazia Christiana bis hin zur Lega Nord und der neuen Rechtspartei „Volk der Freiheit“ immer die dumpfeste Variante zu seiner Vertretung machte.

Wer den Consulting-Ton, der heute bei Einaudi herrscht, kennenlernen will, könnte Paolo Noris Buch „Gli scarti“ („Makulatur“) lesen, in dem er jeden Absatz mit der Bemerkung „in meinem Verlag, die sind vielleicht sympathisch in meinem Verlag“ einleitet; könnte: denn das bei Feltrinelli (auch ein Haus mit großer Geschichte) erschienene Buch ist wie so vieles nicht übersetzt. Maike Albath hingegen zeigt in ihrer Tour d’Horizon Routen durch die italienische Sozial- und Geistesgeschichte, die sich für ein deutsche Publikum zurück- und weiterzuverfolgen lohnen. Denn wenn wir schon keinen Pasolini hervorgebracht haben, sollte uns wenigstens ein Berlusconi erspart bleiben.

Maike Albath: „Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943“. Berenberg Verlag, Berlin 2010, 192 Seiten, 19 Euro