Kamerun und Schlingensief auf RuhrTriennale: Die Zeit, die noch bleibt
Auf der RuhrTriennale sucht Christoph Schlingensief Antwort auf die Frage: Warum gerade ich? Und Schorsch Kamerun entwirft einen begehbaren Ausnahmezustand.
"Den größten Beitrag zur Verständigung zwischen Menschen und Kulturen leistet immer die Kunst", heißt es im Programm der diesjährigen RuhrTriennale. Dass das keine bloße Behauptung ist, zeigen zwei eigens in Auftrag gegebene Produktionen von Schorsch Kamerun und Christoph Schlingensief. Nicht nur durch die Wahl der Spielorte in Industriedenkmälern reichen sie über das reine Sprechtheater und die Neuverhandlung klassischer Stoffe hinaus.
Nur in Kleingruppen werden Zuschauer in die Maschinenhalle der Zeche Zeckel in Gladbeck geleitet. Aus dem Off ertönt eine Durchsage - "… die Preise machen weiter, das Papier macht weiter …" -, Zitat einer "Vorbemerkung" von Rolf Dieter Brinkmann zu seinem Gedichtband "Westwärts 1 & 2". Einen "begehbaren Ausnahmezustand" nennt der Regisseur Schorsch Kamerun sein auf Brinkmanns Gedichten basierendes Stück "Westwärts". Kamerun konfrontiert die 1975 entstandenen Verse mit einem Konzert- und Schauspielspektakel, das er mit ortsansässigen Laien inszeniert hat. Für die Zuschauer gibt es kein Entrinnen, sie werden Teil der interaktiven Geisterbahn von Bühnenbildnerin Constanze Kümmel und müssen zunächst gebückt durch einen Schlund. Dann erst geht es langsam vorwärts in ein verzweigtes System aus grell erleuchteten Gängen aus durchsichtigen Folien und Plexiglas. Alle paar Meter hängen Monitore und Lautsprecher. Jenseits der Gänge bewegen sich Menschen mechanisch langsam, arbeitend. Hier stapelt eine Gruppe Waren, dort werden Zwerge in eine mit Wasser gefüllte Schüssel gelegt.
Die Schauspielerin Sandra Hüller intoniert Brinkmanns Gedichte sprechend und singend. "Westwärts" nennt sich selbst "Heuschreckenopera". Die Musik stammt vom Münchner Komponisten Carl Oesterhelt. Für "Westwärts" führt er seine unter dem Namen Carlo Fashion entstandenen repetitiven Klangexperimente zwischen House und E-Musik mit einem Ensemble aus Streichern, Perkussion und Harmonium erstmals im konzertanten Rahmen fort. Durch die Musik erhalten die Spielszenen Stummfilmcharakter. Doch Hüller und die Musiker sind auch sichtbarer Teil der Raumkonzeption, sie schicken ihre Sounds aus einer durchsichtigen Kapsel in die Lautsprecher. Musik, Worte, Spiel und Räume verdichten sich so, ähnlich der filmischen und musikalischen Komponenten in Brinkmanns Lyrik, zu einem großen Ganzen.
Umso mehr, als die Zuschauer schließlich vor einem Panorama zum Stehen kommen, der Nachbildung eines Notlagers. Hier campieren Menschen mit Habseligkeiten auf Feldbetten. Mal kommt eine Gruppe Mediziner in weißen Kitteln zur Visite, dann stolpert ein überlebensgroßer Laib Brot durch die Menge.
"Was machst du, wenn der Satz zu Ende ist?" Zum Finale steigt Hüller in das Lager und steigert sich in ein panisches Parlando. "Westwärts" ist der gelungene Versuch, Brinkmanns sinnliche und wuchtige Pop-Art-Poesie in die Ära des Überwachungskapitalismus einzuscannen. Die Raumkonzeption verdeutlicht den Abgrund, der sich zwischen Sprache des Dichters und der ihn umgebenden Welt aufgetan hatte, und der noch immer sicht- und hörbar bestehen bleibt.
War "Westwärts" ein Versuch, der Masse eine Stimme zu geben, so funktioniert Christoph Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" in der Gebläsehalle Duisburg-Nord genau umgekehrt: Hier spricht nur einer und er lässt auch alle anderen für sich sprechen. Schlingensief ist schwer erkrankt, und er macht seine Krankeit zum Thema eines "Fluxus Oratoriums" mit Angela Winkler, Margit Carstensen, Klaus Beyer, aber auch dem Angel-Voices-Chor. Das Publikum sitzt auf harten Kirchenbänken, an der Seite spenden Grableuchten schwaches Licht. Man darf sich nicht täuschen lassen, sobald auch nur ein Hauch Voyeurismus aufkommt, wirft die geradezu unheimlich konsequente Offenheit Schlingensiefs alles um. Nach der Erweckung dessen, der der "noch nicht Verstorbene" genannt wird, gibt es keine Erlösung, auch kein Happy End. Obwohl der Chor der Schauspieler singt: "Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt", frei nach Joseph Beuys. Schon flackert ein "Exit"-Schild bedrohlich auf. Abwechselnd hagelt es Schuldzuweisungen, spendet eine Predigt Hoffnung, die ärztliche Bulletins wieder zerstören. "Papa, was ist das ewige Leben?", fragt eine Kinderstimme. Statt einer Jesusstatue hängt ein riesiges Röntgenbild, auf dem sich Arme in Erlöserpose abzeichnen. An anderer Stelle in diesem Körper wuchern Metastasen, und Schlingensief fragt wütend, mit tränenerstickter Stimme, warum es gerade ihn getroffen habe, ob er etwas falsch gemacht habe.
Die Bühne verwandelt sich vom Altar in ein Krankenhausbett, in eine OP-Pritsche, auch die Szene vom letzten Abendmahl wird nicht ausgespart. Gegen die Schmerzen und die Angst spendet die brachiale Musik des Schweizer Jazz-Metal-Drummers Michael Werthmüller Kraft; er zitiert Horror-B-Movie-Orgelthemen, spielt Songs synkretistischer Gospelgottesdienste rückwärts, und auch der Gospelchor verlässt rückwärts die Bühne.
Musik war auch Bindeglied zwischen Gedichten, Manifesten und Filmen von Fluxus-Happenings, die an diesem Abend in alten Filmdokumenten von Valie Export und Nam Jun Paik über die Leinwände flimmern. Dann wieder sieht man Schlingensief als Kind in Super-8-Filmen herumturnen. So wird das Oratorium, das sich dem Glauben und dem Gebet in musikalischer Form widmet, mit Fluxus zum Glaubensbekenntnis des Künstlers Christoph Schlingensief, der vollkommen in seiner Kunst aufgeht. Ergreifend ist aber weder Profanes noch Religiöses, sondern das Mantra der Metronome in den Händen aller Spieler und Musiker, die damit die noch verbleibende Zeit ticken lassen, bis zum Schluss Totenstille einkehrt.
die RuhrTriennale geht noch bis zum 5. Oktober 2008
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?