Vor hundert Jahren (12): Kaiser-Frühstück
■ Zwanglose Stunden mit der Majestät
Wenn berühmte Menschen wie Roman Herzog oder Mutter Beimer die Stadt besuchen, dann kritzeln die Kulis und rattern die Casettenrecorder der JournalistInnen. Jedes noch so unbedeutende Zitat ist eine Schlagzeile wert, denn es gilt, wer etwas zu sagen hat. Früher war das anders! Da lag die Hauptsache noch im Nebensächlichen. Also hat's taz-Mitarbeiterin Anja Robert im Archiv entdeckt.
Zur großen Freude der Bevölkerung Bremens hat Seine Majestät der Kaiser gestern seine Fahrt von Wilhelmshaven nach Berlin in Bremen unterbrochen, um einige zwanglose Stunden in unserer Stadt zu verleben. Aus dem Portal des Bahnhofs tretend, wurde der Kaiser, welcher Marineuniform trug, von der harrenden Menge mit brausenden Hochrufen begrüßt, wofür er verbindlich dankte. Er nahm dann in einer offenen Equipage Platz, neben ihm zur Linken Bügermeister Pauli. Auf der Fahrt nach dem Rathskeller erfolgte überall eine herzliche Begrüßung durch das zahlreich versammelte Publikum. Auch im Rathskeller wartete eine große Menschenmenge, die zum Theil seit Nachmittags 1 Uhr ihre Plätze mit Energie vertheidigt hatte, den hohen Gast. Mehrere Damen überreichten ihm kostbare Blumensträuße. Wie in früheren Jahren war auch diesmal der Bacchussaal mit lebenden Pflanzen decorirt, aber auf den Tischen fehlte das Gedeck, weil es der Wunsch des Kaisers ist, nach alter Sitte an ungedeckten Tischen zu sitzen. Das Frühstück bestand im wesentlichen aus kalten Speisen. Die Weine, welche dabei gekostet wurden, hießen 1889er Nackenheimer Rotheberg und 1886 Schloß Johannisberger. Die Abfahrt unseres hohen Herren erfolgte über die Obernstraße und den Breitenweg. Die Bevölkerung hatte sich wieder in unzähliger Menge eingefunden, und lebhafte Hurrah- und Hochrufe begleiteten die Wagen. Auf dem Bahnhof verabschiedete sich der Kaiser und trat um 5 1/4 Uhr die Reise nach Berlin an. Bei der Ausfahrt des Zuges stand er hinter der Thüre seines Salonwagens, freundlich auf die ihm zujubelnde Menge herabgrüßend. Bremer Nachr., 16.3.1897
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