KZ Mittelbau-Dora

Streifzüge um eine Gedenkstätte herum  ■ Von Gabriele Goettle

Ein stämmiger Mann in schwarzer Uniform kniet über einem großen Rottweilerrüden und wälzt ihn ungestüm im Gras hin und her. Schnaubend vor Vergnügen und Anstrengung erheben sie sich, werden aber bei meinem Anblick sofort dienstlich: „Wir haben hier schon geschlossen, morgen ab zehn ist geöffnet“, ruft der Uniformierte mir barsch zu und hält den knurrenden Hund am Halsband zurück. Die Lage entspannt sich, als ich meinen Presseausweis zeige und erkläre, daß wir am nächsten Tag ein Interview machen wollen mit der Direktorin der Gedenkstätte. Der Mittfünfziger fährt sich durchs graue, bürstenlange Haar, deutet auf die Metallplakette auf seiner Brust, sagt: „Wachdienst!“ und nennt seinen Namen. Auch der Hund stellt sich spontan auf die neue Situation ein, verstummt und nimmt neben seinem Herrn Platz. „Das wird außerhalb der Öffnungszeiten alles gesichert, das ganze Gelände, rundum“, erklärt der Wachmann, „zwei Sicherheitskräfte mit Hund patrouillieren jede Nacht, seit das damals passiert ist mit dem Einbruch oben im Krematorium. Es kamen ein paar Originalstücke weg, zum Teil sogar Sachen aus früherem Häftlingsbesitz. In den Berg sind da auch mal welche eingestiegen, so rechte Jugendliche waren das, in irgendeinen Luftschacht. Wollten wohl die unterirdischen Stollen erkunden. Da drin haben die Faschisten ja von den Häftlingen ihre Geheimwaffe bauen lassen. Aber weit gekommen sind sie nicht, die Jugendlichen, der ganze Eingangsbereich ist damals zugesprengt worden von der Roten Armee. Also, seit wir hier aufpassen, ist nichts mehr vorgefallen, dieser Art.“ Dann begleitet er mich zum Eingang. Ich frage ihn, ob wir denn hier draußen irgendwo stehen können mit unserem VW-Bus, er zeigt auf eine alte geteerte Fläche, versteckt zwischen hohen Sträuchern liegend: „Stellen Sie sich dort hin am besten, da werden Sie von uns gleich mitbewacht.“

Wir machen mit unserem Hund einen Abendspaziergang über das weitläufige Gelände, auf dem ehemals die ans Häftlingslager sich anschließenden SS-Kasernen standen. Darüber ist viel Gras gewachsen. Gegenüber vom zugeschütteten Schachteingang befand sich, laut Plan, das Industriegelände des Konzentrationslagers, hier hat sich sinnigerweise ein „Deutscher Schäferhundeverein“ angesiedelt. Dem werde ich morgen einen Besuch abstatten.

Hier, im Südharz, am Rande von Nordhausen, liegt der Kohnstein, ein langgestrecktes bewaldetes Gipsmassiv. Bereits während des Ersten Weltkrieges hat die BASF zwei Stollen in den Berg getrieben, angeblich zum Zweck der Sprengstoffgewinnung. Ihr folgten die IG-Farben-Werke zusammen mit der Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft (Wifo) der Nazis (Anhydritabbau und Lagerkapazität für Treibstoff- und Giftgasvorräte miteinander verbindend), gefolgt wiederum von der Mittelwerk GmbH, die unter der Leitung der SS das Stollensystem zu einer unterirdischen Rüstungsanlage für die Raketenproduktion auszubauen hatte (nachdem die Anlage in Peenemünde im August 1943 von englischen Bombern zerstört worden war). Hier sollten die deutschen „Geheimwaffen“ in Serienproduktion gehen, für den „Endsieg“ und zur schnellen Verwüstung von London und Amsterdam.

Im Mittelwerke-Komplex gingen Ingenieure und Wissenschaftler ein und aus, so auch der legendäre Raketenkonstrukteur und SS-Sturmbannführer Wernher von Braun. Er und seine Kollegen hatten bereits in Peenemünde Häftlingsarbeit in Anspruch genommen. Wie heute bekannt ist, waren sie nicht nur passive Zuschauer, sondern auch Auftraggeber der Häftlingsbeschaffung. Rüstungsforschungsstellen verschiedener Universitäten siedelten sich an, Rüstungskonzerne und zahlreiche Firmen waren vertreten, so Ruhrstahl, Rheinmetall, Walther KG, BMW, Siemens, AEG-Telefunken, Borsig. Im Komplex Mittelbau wurden innerhalb von zwei Jahren 60.000 Menschen aus 21 Nationen der Zwangsarbeit unterworfen. 20.000 von ihnen haben die mörderischen Bedingungen nicht überlebt. Überlebt haben die Nutznießer, zum Beispiel Rüstungswirtschaft und Raumforschung. An so einem Ort hat bürgerliche Dämmerung, trotz aufgehenden Mondes und zunehmender Stille, so gar nichts Friedliches an sich. „Dieses Objekt wird bewacht durch die PLATO Wachdienst GmbH“ steht auf einem Schild. Wir überqueren die Wiese und spazieren den Hügel hinunter zum Hirschgraben, in dem ein gleichnamiger Teich mit breitem Schilfufer am Rande eines Buchenwäldchens liegt. Plötzlich erscheinen Schwärme von Staren, fliegen lebhaft kreisend über dem Tal, treiben wolkenförmig dahin, kippen dann jäh und sturzflugartig, alle gleichzeitig – wie in geheimer Verabredung – mit Schwirren und Rauschen hinunter ins Schilf, wo sie noch eine Weile rascheln, mit den Flügeln schlagen, leise wispern, bis mit einem Schlag alle gemeinsam verstummen.

Der Morgen ist klar, und die Sonne entfaltet bereits eine Wärme, die bald zur Hitze wird. Auf dem Areal des ehemaligen Häftlingslagers sind fast nur noch Fundamente erhalten. Das Krematorium steht etwas abseits am Hang, umgeben von Eichen, ein unscheinbar wirkendes, einstöckiges Backsteingebäude. Im Vorraum hat man bei Renovierungsarbeiten von Häftlingen angefertigte Wandmalereien gefunden, Blumen, Vögel, Früchte. Verdienstvollerweise wurde nicht alles freigelegt, sondern nur schmale Streifen, die jetzt zwischen dem grauen Putz um so plastischer aus der Vergessenheit hervortreten. Dafür hängt in der ehemaligen Leichenkammer ein Farbfoto an der Wand, das wirkt wie eine Indienstnahme dieses Ortes für einen missionarischen Zweck. Es zeigt ein Kreuz, aus Teelichtern gebildet, und die Bildunterschrift „Erste Gebetsandacht am 24.6. 1993, Priester Wallfahrt aus dem Bistum Hildesheim“. Zwei weitere Schwarzweißfotos im Raum zeigen Leichen auf einem Wagen und Leichen, die in diesem Raum lagen bei der Befreiung. Das Museum ist in einer ehemaligen Häftlingsbaracke untergebracht. Man sieht ihm die bescheidenen Mittel an. Ein Zivildienstleistender erledigt Aufsicht und Verkauf der Bücher, Broschüren und Videokassetten. An den Stellwänden zeigt man die Dokumentation der Lagergeschichte, in der auch die Rolle der Wissenschaftler thematisiert wird, ihre Reaktion auf die mörderische Behandlung der Häftlinge: „Prof. Wernher von Braun wandte nicht einmal den Kopf nach ihnen. Ich glaube nicht, daß der interplanetare Raum in diesem Augenblick sein ganzes Denken beherrschte. Ich glaube nicht, daß er die in Schmutz und Dreck Sterbenden nicht sah. Er mußte sie sehen! Warum schwieg er?“ (aus einem Erlebnisbericht des polnischen Häftlings Adam Cabala). Hinter den Stellwänden können kleine Besuchergruppen den Videofilm sehen, der, anstelle des zu DDR- Zeiten gezeigten Filmes, nun über die Lagergeschichte aufklären soll. Er wurde im Auftrag der Stadt Nordhausen zusammengestellt aus altem und neuem Material und ist seinerseits tendenziös, nun in umgekehrter Weise. Wirklich empörend daran ist ein deutlich sichtbarer Akt der Zensur: Der ehemalige Häftling Ewald Hanstein, deutscher Zigeuner, berichtet von der Schinderei, von den Privatfirmen, die fleißig daran teilnahmen. Er nannte den Namen einer heute in Bad Sachsa ansässigen Firma (der sich entsprechend bei ihm einprägte). Der Name wurde rausgeschnitten!

Auf dem Weg zur Verwaltung findet sich in einem Schaukasten die Besucherordnung aus Vorwendezeiten: „Liebe Besucher! Bitte unterstützen Sie durch Ihr Vorbild die Einhaltung der nachfolgenden Grundsätze und ehren Sie auch damit das Andenken der ermordeten antifaschistischen Widerstandskämpfer. – Es verbietet sich von selbst, Kofferradios, Tonbandgeräte u.a. Tonträger zu benutzen (...)“ Da legt sich der furchtbare Verdacht nahe, daß den lediglich rassisch verfolgten Juden und Zigeunern durch laute Musik aus Kofferradios keine Schmach angetan würde. Und ganz nebenbei bemerkten wir noch, daß auf dem Lageplan am Eingang des Lagers die Bordellbaracke (für Kapos und Funktionshäftlinge) nicht verzeichnet ist.

In der Verwaltung treffen wir einen der wissenschaftlichen Mitarbeiter an. Ich erzähle, daß wir gestern einige Mühe hatten, den Weg hier heraus zu finden, das System der Hinweisschilder breche mitunter ab. Er lächelt und winkt ab: „Das ist nichts im Vergleich zu den Problemen, die es nach der Wende gab. Zu DDR-Zeiten hießen die Konzentrationslager ,Mahn- und Gedenkstätte‘, das wollte man dann nicht mehr nach der Wende. Also wir sollten ,Gedenkstätte Dora-Mittelbau‘ heißen. Aber wie klingt denn das, wie ein Frauenname, ein Hinweis auf einen Ort, wo man der Dora Mittelbau gedenkt! Jetzt heißen wir ,KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora‘. Auf der Bushaltestelle steht immer noch ,Gedenkstätte Dora‘. Dann wurden vom Bundesstraßenbauamt eines Tages in eigener Regie neue Tafeln aufgestellt mit der Aufschrift ,GEDÄNKSTÄTTE‘, kein Witz! Aber die eigentlichen Probleme haben wir mit der Anerkennung unserer Eigenständigkeit, die wir nach und nach versucht haben zu organisieren, so daß wir aus der Abhängigkeit von

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Buchenwald loskommen, in bezug auf die Finanzen, denn schließlich war Dora ja seit Oktober 1944 nicht mehr Außenlager von Buchenwald, sondern selbständiges KZ. Wir haben es jetzt nicht mehr so mit der politischen Konkurrenz zu tun, mehr mit der ökonomischen. Vom Bund bekommen wir gar nichts, da werden nur die großen Lager anerkannt, die kleinen fallen hinten runter. Aber was zählen muß, ist doch die kulturhistorische Komponente – der Ausdruck ,kulturhistorisch‘ ist hier so zu verstehen, daß Raumfahrt und Raketentechnik ja Bestandteile der Kulturgeschichte sind – dafür sind hier 20.000 Häftlinge umgebracht worden, für die Raketentechnik der Deutschen! Das begreift auch nicht jeder Journalist. Wegen dieser Auffassung, die auch die Meinung der europäischen Häftlinge ist, daß sie sich nämlich begreifen als Teil der Fahrt zum Mond, da gab es schon üble Unterstellungen. Wir hätten hier den erfolgreichen Start der V2 gefeiert, würden Technikverherrlichung betreiben, Wernher von Braun an die Stelle des Widerstandskämpfers Kuntz setzen, das kam alles. Schließlich haben die Häftlinge die V2 gebaut, und diese dunkle Seite soll einfach nicht rein in die Geschichte der Raumfahrt. Am 11. April 1995 werden wir hier den 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora feiern, viele der ehemaligen Häftlinge werden kommen, einige zum ersten und letzten Mal nach ihrer Befreiung, da wird es dann am Rande ganz sicher auch zu diesem Thema Gespräche geben.“

Die Direktorin kommt und nimmt mich mit in ihr bescheiden aus DDR- Beständen möbliertes Büro. Sie ist Anfang Dreißig, Akademikerin, Ostdeutsche und kam nach der Wende hierher. Bemerkenswert ist, daß es für diesen Posten keine West-Bewerber gab. Das zeigt, daß hier wirklich nichts zu holen ist an Finanzmitteln, Karrieresprung, internationaler Bedeutung. Ich bitte sie, mir etwas zum Problem um den Berg zu erzählen, um den Konflikt zwischen kommerzieller Nutzung und Störung der Totenruhe.

„Schade, daß Sie nicht vor acht Tagen gekommen sind“, sagt sie und sucht etwas zwischen ihren Papieren, „na egal. Wir hatten zum ,Tag des offenen Denkmals‘ hier erstmals öffentliche Führungen in einem Teil des Stollensystems. Politiker waren da und mehr als 2.000 interessierte Bürger. Es war ein großer Erfolg, wir streben langfristig an, daß zwei Kammern im Stollensystem für Besucher zugänglich gemacht werden. Die Erweiterung der Gedenkstätte in diesen Bereich hinein ist ja wirklich nicht von der Hand zu weisen, wenn man die Geschichte des Lagers anschaut. Wir haben hier ein Denkmal, das man nicht begehen kann oder darf. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß wir ein 85.000 Quadratmeter umfassendes Stollensystem unter dem Kronstein haben. Die Fahrtunnel, A und B, verlaufen quer durch den Berg über fast zwei Kilometer Länge und bildeten zwei Ein- und Ausgänge, zwei auf der Nordseite des Berges und zwei südliche hier bei uns. Und diese Fahrtunnel sind durch annähernd 50 Querstollen und Kammern miteinander verbunden, jeder etwa 200 Meter lang, da wurde drin gearbeitet. Das alles haben Häftlinge unter grauenvollsten Bedingungen in kürzester Zeit ausbauen müssen. Nur ein kleiner Teil des Stollensystems existierte bereits vorher, war angelegt als Treibstofflager, ursprünglich. Die Dimensionen müssen Sie sich so vorstellen, daß richtiggehend Eisenbahnzüge durch den Berg fahren konnten. Besonders in der Aufbauphase wurden viele Häftlinge zu Tode geschunden, in sechs Monaten fast 3.000 Menschen, die gingen zugrunde im Berg. Und schon deshalb hat das einen Denkmalcharakter.

Also am 30. September 1992 haben wir ein Schreiben bekommen, daß die Firma Wildgruber Baustoffe & Co. München das Anhydritwerk übernommen hat. Und ganz zu Anfang war es ja so, daß das Umweltministerium Thüringen – zu einem Zeitpunkt, als im Prinzip noch keiner daran dachte, daß die Bergbaufelder an die Treuhand gehen – gesagt hat, das und das ist Bergbau-Schutzgebiet. Da hat man einen Teil herausgenommen, es war nur ein kleiner Teil, aber doch so, daß wir von unserer Seite hier einen neuen Zugang hätten bauen können, Kammern öffnen, in die man dann hätte reingehen können mit den Besuchern, damit wenigstens eine kleine Vorstellung... Das ist dann aber bei der Meldung an die Treuhand praktisch nicht mehr berücksichtigt worden, ob's nun vergessen wurde oder was, ich weiß es nicht. Im Endeffekt ist es dann so gewesen, daß der Käufer a l l e s , und zwar ohne irgendwelche Vorbehalte, bekommen hat. Er ist der Besitzer des gesamten Berges! Als es dann Proteste gab, hat die Treuhand ihren Standpunkt ein wenig geändert, sie hatte die Vorstellung von einem Kompromiß, also Denkmal und Abbau. Aber bis jetzt rührt sich nichts. Er scheint übrigens einer der wenigen Leute zu sein, die hier einen Tagebau betreiben, ohne zu Hause im Westen schon mal was derartiges gemacht zu haben, soviel ich weiß, waren da andere Bewerber... jedenfalls bewegt sich nichts. Die Dinge sind nicht so, wie sie mal gedacht waren, deshalb wird jetzt geprüft, ob nicht der Hohlraum einen besonderen Status beanspruchen und bekommen kann, aufgrund seiner historischen Bedeutung. Es ist ja rätselhaft, weshalb der Eigentümer über diesen riesengroßen Hohlraum, dessen Vergangenheit ihm ja wohl, also sagen wir mal, relativ bekannt sein sollte, einfach hinwegschauen kann. Andererseits gibt es gewisse Leute, die ein Interesse daran haben, daß der Hohlraum eben n i c h t erhalten bleibt. Ob er zu denen gehört, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie auch immer, 1991/92 war ja die große Pressekampagne, er kann überhaupt nicht – selbst wenn er keine Bücher liest – ahnungslos bleiben, und er konnte es auch nicht überhören. Aber da interessiert nur, w i r sind die Bösen, wir sind diejenigen, die den Tagebau jetzt daran hindern wollen, in ausreichender Menge abzubauen, Arbeitsplätze geraten in Gefahr, hier wird das beste und reinste Anhydrit in ganz Europa abgebaut, der Abbau ist auch wichtig für die Region, das sind so die Argumente.

Aber wir behindern den Abbau gar nicht, er arbeitet ja! Jeden Morgen um neun wird gesprengt. Da werden wir immer angerufen – erstaunlich! Aber es gibt ein gewisses Mißtrauen gegen ihn, er sitzt nun genau dran, er könnte – rein theoretisch, reine Mutmaßung nur – quasi hier das Werk betreiben und in Wirklichkeit ganz andere Interessen haben, vielleicht alles erkunden, sammeln, was auch immer. Es sind Gegenstände aus dem Kronstein auf dem internationalen Military-Markt angeboten worden, das ist eine gesicherte Tatsache, wie sie allerdings dahin kamen und durch wen, das ist ungeklärt. Ich sage mir nur, irgendwelche Jugendlichen, die da vielleicht mal eingestiegen sind, waren das nicht. Es ist nämlich sehr schwierig, was Größeres über die Luftschächte rauszuholen. Aber es können natürlich auch Arbeiter gewesen sein. Am Anfang waren es 600 Mitarbeiter, jetzt ist er bei 250. Etwa 30 Lkw- Fahrer arbeiten im Tagebau, vom Rest ist nichts zu sehen. Immer, wenn ich da mal langkomme und rüberschaue, frage ich mich, wo die alle arbeiten. Wissen Sie, wenn einer sich so hinwegsetzt über die Geschichte, von der dieser Ort gezeichnet ist, dann erweckt das eben zwangsläufig Mißtrauen. Vielleicht kommt er ja mal rüber, zur Feier des 50. Jahrestages der Befreiung, wir bereiten da eine große Ausstellung vor, die kann er sich anschauen, vielleicht hilft es.“

Es interessiert mich, auch die andere Seite zu hören. Also fahren wir um den Berg herum, nach Niedersachsenwerfen, wo am 28. August 1943 Häftlinge aus Buchenwald im vorhandenen Stollentrakt mit der Zwangsarbeit beginnen mußten. Der Tagebaueinschnitt ist größer, als ich dachte. Es wird in zwei Etagen abgetragen. Weiße Gesteinsschichten und rötliche sind zu sehen. Oben auf dem Kamm stehen noch ein paar Bäume. Der Berg wirkt wie ausgeweidet. An der Pforte des Verwaltungsgebäudes stelle ich mich, um nicht von vorneherein in den Streit hineingezogen zu werden, als Journalistin vor, die zum Thema „Mittelständische Unternehmen und Erhalt von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern“ recherchiert. Ich werde entsprechend freundlich empfangen. Auf dem Weg nach oben begegnen wir einem wahren Heer, augenscheinlich von Vertretern, mit Köfferchen, verbindlichen Gesten, in dunklen und brombeerfarbenen Jacketts. Meine Gesprächspartner sind Ostdeutsche, einer ist Bereichsleiter, sie kommen aus den Zweigen Chemie und Bergbau. Sie kennen sich aus. Ich frage nach harmlosen Dingen, bin zuversichtlich, daß sich das Thema ganz von selbst zur Sprache bringen wird und erfahre folgendes:

„Wir haben derzeit 260 Mitarbeiter, ein Drittel Frauen, dazu 20 – Azubis heißt's ja heute –, die werden ausgebildet als Industriemechaniker. Wir haben insbesondere den Vertriebsbereich aufgestockt. Bis 1992 waren wir VEB Leuna, dann übernahm Herr Wildgruber. Soviel wie er konnte, hat er an Mitarbeitern behalten, auch in der höheren Ebene. Die Verarbeitung und alles findet hier im Osten statt, deshalb haben wir den Zuschlag bekommen, andere Bewerber wollten mit 50 Mann hier abbauen und alles in den Westen schaffen zur Verarbeitung.

Tagebau gibt's hier schon seit 1916, der ist primär für die Chemie angelegt worden, gehörte ab 1919 zur BASF. Also bis 1989 ist der größte Teil in die Chemie gegangen, hier nach Leuna, zur Herstellung von Ammonsulfat für Düngemittel, seit 1979 sind aber auch schon Baustoffe produziert worden, hier in Niedersachsenwerfen. In der DDR brauchten wir die Düngemittel dringend für unsere LPG-Großflächen, nach der Wende hatte man es plötzlich mit einem Ammonsulfat-Überschuß zu tun, deshalb ist als erstes diese Produktion eingestellt worden. Wir sind dann umgestiegen auf Abbau und Herstellung von Baustoffen, das war das Treuhand- Konzept, schon vor der Privatisierung. Deshalb suchte man einen Unternehmer aus der Baustoffbranche als Käufer, der hat sich dann auch gefunden. Heute ist der größte Teil des abgebauten Materials für Baustoffe, Estrich, Mörtel, fertige Gemische, nur noch ein geringer Teil des Anhydrits geht in die Chemie. Früher war's eben umgekehrt. Wir können eigentlich optimistisch in die Zukunft blicken, der Berg ist 90 Meter hoch, 40 Hektar, da liegt noch eine Abbaukapazität von mindestens 30 Jahren drin. Na ja, gewisse Einschränkungen gibt's... da hatten wir ja bereits eine Menge Theater deswegen, die drüben, von der Mahn- und Gedenkstätte, haben die Presse gegen uns aufgehetzt. Sie haben sicher davon gehört, das liegt jetzt ein bißchen zurück, momentan ist Funkstille. Da ist viel mit Schmutz geworfen worden... wir machen hier nur unsere Arbeit... und was heißt denn das: ,Da liegen Tote drin, das ist ein Denkmal!‘ Da ist doch nur Effekthascherei, das sind so Reden! Zu DDR-Zeiten ist hier wesentlich mehr abgebaut worden als heute. Von 1966 bis 1989 hat keiner was gesagt, von der Gedenkstätte drüben. Also da wollen bestimmte Leute sich wichtig machen, das ist alles! Wir können Ihnen das ganz genau erklären: Es gibt ganz bestimmte Vereinbarungen, bis da und dahin dürfen wir abbauen, darunter nicht mehr, das steht unter Denkmalschutz. Und diese Vereinbarungen werden von uns auch eingehalten, da bleibt alles stehen, bleibt erhalten, wie es war, da gehen wir nicht weiter ran!“

Es ist früher Nachmittag, wir fahren zurück, um uns noch den Hundesportplatz anzusehen.

„Deutscher Schäferhundeverein Carl Siese. OG Nordhausen 1902“ steht am offenen Tor. Das Gelände ist umzäunt, umfaßt ein Vereinshaus und den Rasen, auf dem diverse Gerätschaften, Hindernisse und Unterstände zur Abrichtung der Hunde stehen. Ich nähere mich einem Mann im Trainingsanzug, den drei Hunde umspringen, ein Rüde, ein Weibchen und ein halbwüchsiger Welpe. Auf meine Frage, ob die Hunde beißen, zuckt der Mann unwirsch mit den Schultern und sagt kalt: „Das weiß man nie so genau, was suchen Sie denn hier?!“ Erst als ich protestiere, ruft er dem sich mir nähernden Rüden ein scharfes „Pfui! Ab, aber schnell!“ zu, das jedoch ohne Wirkung bleibt. Schon ist er an meiner Seite und untersucht schnüffelnd meine Hosenbeine nach dem Geruch unseres Hundes. Erst beim nächsten Befehl läßt er ab. Anscheinend hat das den Herrn so gefreut, daß er nun bereit ist, mir von seinem Verein, von der Zeit früher und von heute zu erzählen. Wir setzen uns auf eine Bank, der Rüde und das Weibchen behalten mich scharf im Auge, sogar der Welpe ist mißtrauisch.

„Ja, also den Verein gibt's schon lange, ich glaub' seit 1906 so was. Ja, ja, das war zu DDR-Zeiten auch alles erlaubt, wir durften züchten, abrichten, scharfmachen, das war alles nicht so... Im Gegenteil, der Hundesport war in der DDR gern gesehen, wurde gefördert und war weit verbreitet in der Bevölkerung. Nur halt nicht in Vereinen, Vereine zu gründen war ja verboten, aber das wurde einfach anders zusammengefaßt, im Dachverband der Kleintierzüchter, so was, das war eine reine Formsache, im Grunde waren wir vollkommen eigenständig, heute sind wir natürlich ganz frei, aber das hat auch Nachteile. Erst mal finanzieller Art natürlich, und dann mußten wir uns ja voll den Zuchtrichtlinien des Westens unterwerfen. Man hat unseren Ostschäferhund nicht richtig anerkannt. Gut, er hat sich unterschieden durch ganz bestimmte Merkmale, aber ich behaupte, daß unserer der bessere Hund war! Das Fell war mehr grau-silbrig, dann die Hinterhand etwas höher und gesünder, die Vorderhand nicht so auf Schau gezüchtet, das Tier sollte ja auch gehen! Wir hatten unsere eigenen Rassestandards. Die waren ausgerichtet am Gebrauchshund, wie er ja mal gedacht war, der zog ja sogar mit in den Krieg, mehr als 30.000 Schäferhunde wurden allein im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Also da hat man nicht geschaut, ob die Linie so oder so ist, da kam's auf ganz was anderes an! Leider haben viele Züchter ihre Hunde aus der DDR-Zeit abgeschafft, ham sie verkauft, nach Polen und in die SU, eben weil sie nach der Wende nicht mehr dem allgemeingültigen Standard entsprochen haben, da hat man zu schnell ungeprüft alles freudig übernommen, genau wie mit allen anderen Sachen.

Momentan haben wir 43 zahlende Mitglieder. Das Gelände gehört der Stadt, wir müssen unsere Pacht zahlen und eben die laufenden Unkosten. Na, die Pacht ist zum Glück nicht hoch, das ist nämlich alles Brachland hier. Wir sitzen ja auf KZ-Gelände. Früher waren wir woanders, aber das wurde dann bebaut, das Grundstück, und da hat man uns '79 im Tauschverfahren dann dieses hier gegeben. Der Platz ist für uns absolut ideal, schon wegen der Ruhe, die hier herrscht. Das ist es auch, was uns jetzt die meisten Sorgen macht, daß sie dort drüben wieder den Stollen in dem Berg aufmachen. Der war ja an sich zu, jetzt isser scheinbar wieder Fortsetzung

offen, vorigen Sonntag haben sie Führungen gemacht da drin. Also wenn die das richtig aufmachen, Museum rein und so, und wenn dann die Touristenbusse hier alle anrollen den ganzen Tag, dann ist es aus mit unserer Ruhe. Das hat sich jetzt bereits gezeigt, die vielen Leute, das ständige Kommen und Gehen macht unsere Hunde ganz nervös, und wir werden auch verrückt.

Es gibt ja hier keinen Baum, keinen Busch, nichts davor, es werden die Leute reingucken und sagen: ,Ach, sieh mal an, da sind gleich wieder die Schäferhunde auf dem KZ-Gelände!‘ Also wir haben jetzt eine Vereinbarung mit der Stadt Nordhausen getroffen, die machen uns hier auf ihre Kosten eine Sichtblende hin, Hecken oder so, was weiß ich, wie auch immer.

Wir von uns aus machen nichts, das wäre ja noch schöner! Das war früher alles mal zugewachsen dort am Zaun, aber da kam so ein Intelligenzler und hat alles weggemacht, warum, weiß keiner! Früher war da auch nicht so ein Betrieb. Zu den entsprechenden Tagen kamen die Leute, dann auch mal die eine oder andere Schulklasse, das war's schon. Hauptsache ist, man läßt uns hier unsere Ruhe und unseren Frieden. Sehnse, ich bin arbeitslos und bin froh, daß ich das hier noch habe. Ich bin mit Herz und Seele Hundezüchter, immer schon gewesen, der eine sammelt Briefmarken, und ich habe eben dieses Hobby. Und da bin ich nicht alleine, hab's erst grade gelesen, der gesamtdeutsche Schäferhundeverein hat heute 120.000 Mitglieder, davon sind glaub' ich 20.000 von unsern Leuten hier ausm Osten, und 3.000 sind Züchter. Na, das hört sich doch gut an! Und ich glaube, wir haben eine dreiviertel Million Schäferhunde, so was um den Dreh rum. Also wenn Sie mich fragen, mit dem deutschen Schäferhund, da kommt nichts mit! Mastino, Pitbull und all das Zeugs, ist alles ausländischer Mist! Nee, ich schwöre auf den Schäferhund. Meine richte ich selber ab. Man muß mit dem Tier hart arbeiten, dann wird was draus. Man muß die Reißkraft des Kiefers trainieren, das Klettern und Springen und ebenso Befehl und Gehorsam, entsprechend den Regeln. Er hier entspricht noch nicht so ganz, nee, er sollte an sich 63 Zentimeter Risthöhe haben, ganz ausgewachsen ist er ja noch nicht, mal sehen. Aber die Rute ist absolut perfekt! Leider ist das ein ganz unberechenbarer Hund. Deshalb komme ich auch ständig mit ihm hierher, wir arbeiten mit dem Hetzarm, alles. Er kann nicht auslassen, wenn der Befehl kommt. Der greift sofort an, kein Problem. Also wenn Ihr Hund jetzt reinkommen würde – den haben Sie ja klugerweise draußen angebunden –, der hätte keine Chance. Wissen Sie, heutzutage, wo überall das Gesindel herumläuft und einbricht, ist so ein Hund ein Segen. Wir haben ein Haus, etwas abgelegen, da muß ich mir keine Sorgen machen, da kann ich mich hundertprozentig drauf verlassen, der greift an, der Hund, sofort, da gibt's keine Chance, der zerreißt jeden Eindringling hundertprozentig.“