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Archiv-Artikel

KUTSCHMA VOR GERICHT WÄRE DER ZWEITE TRIUMPH FÜR DIE UKRAINER Kiew macht Ernst

Nun scheint der ukrainische Expräsident Leonid Kutschma doch in Bedrängnis zu geraten: Aus seinem Urlaub im tschechischen Karlsbad nach Kiew zurückgekehrt zeigte er sich bereit, erneut zum Fall Gongadse auszusagen. Es wird ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, denn die neue Regierung unter Präsident Wiktor Juschtschenko macht Ernst mit der Aufklärung des Mordes an dem Journalisten Georgi Gongadse. Auch sie handelt unter großem Druck. Der Umgang mit diesem nie aufgeklärten Skandal ist ein erster Test dafür, ob die neue Regierung wirklich mit dem alten Regime abrechnet – und wird deshalb sowohl von der ukrainischen Bevölkerung als auch von den Regierungen in Westeuropa genau beobachtet.

Der wichtigste Zeuge in dem Mordprozess, der frühere Innenminister Juri Krawtschenko, hat sich letzte Woche umgebracht – ein Selbstmord wie bestellt, denn er sollte am selben Morgen von der Staatsanwaltschaft verhört werden. Die alte Riege ist damit einen lästigen Mitwisser los, der sich in seinem Abschiedsbrief als „Opfer der Intrigen Kutschmas“ bezeichnet hat. Die Aufklärung des Mordfalls Gongadse macht klar, warum Kutschma unbedingt einen loyalen Thronfolger hatte installieren wollen: Dieser hätte ihm – neben den alten Pfründen – auch Straffreiheit sichern können.

Doch das Volk in Orange, das seine Führung unumwunden als Banditen bezeichnet hat, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Hunderttausende demonstrierten gegen Vetternwirtschaft, Korruption und menschenverachtenden Zynismus und erinnerten dabei auch immer wieder an den Journalisten Gongadse. Kommt Kutschma nun vor Gericht, wäre dies nach dem Wahlsieg der Opposition ein zweiter Triumph für die Ukrainer, die genug haben von Lügen und Vertuschungen.

Ein Prozess gegen Kutschma wäre auch ein Paukenschlag, der den ganzen Rest der ehemaligen Sowjetunion erzittern ließe: Denn dort verstehen die Politiker den Staat als Selbstbedienungsladen und haben sich längst an den Gedanken gewöhnt, dass sie nie jemand zur Rechenschaft ziehen wird.

ZITA AFFENTRANGER