KURZKRITIK: HENNING BLEYL ÜBER DIE MUSIKFEST-MISSA : Blomstedts Hände
Die Faust des alten Mannes steht zitternd in der Luft, ganz kurz nur. Aber Grandioses drückt sich eben manchmal in winzigen Momenten aus. Wie Herbert Blomstedt, 85, nach Beethovens Missa Solemnis auf der Bühne steht, ist nur zu verstehen, wenn man die 100 vorhergehenden Minuten gehört hat: Die Kammerphilharmonie in Hochform, der Chor des Bayerischen Rundfunks zwischen triumphalem Gloria-Gesang und einem unheimlich dräuenden „et sepultus est“. Dazu vier Solisten, die das menschlich-musikalische Spektrum zwischen juvenilem Alles-Gelingen und dem Kampf um Klang und Vitalität perfekt abbilden. Letzteres vielleicht nicht ganz freiwillig.
In diesen 100 Minuten haben Blomstedts Hände Welten geschaffen. Haben ein Kyrie geformt, das Gottvater auf in Marmor gehauene Wolken setzt. Ein Credo gestaltet, in dem Dominik Wortig die geniale Unangestrengtheit seines strahlenden Tenors aussingt. Und kann es einen süßeren Heiligen Geist geben, als ihn Bettina Wild durch ihre Flöte bläst? Rein musikalisch, möchte man meinen, könnte Mariä Empfängnis durchaus so stattgefunden haben. Befreit vom Griff des Dirigentenstabes gleiten Blomstedts alte, energiereiche Hände durch die Luft. Wenn die Handkante zuckt, ist das Blech auf dem Punkt. Und wenn sie zur Faust wird, war sie zuvor ein Segen.