KURZKRITIK: CHRISTIAN JAKOB ÜBER HERRENBESUCH : Akten des Zeitgeists
Nüchtern, diskret und liberal, so sieht sie sich gern, die Gesellschaft der Hansestadt Bremen. Doch auch hier sind Voyeurismus und Bigotterie stete Begleiter arrivierter Bürgerlichkeit. Das zeigt der „Fall Kolomak“. Dieser Prozess gegen die Mutter eines früh gestorbenen jungen Mädchens sorgte zwischen den Weltkriegen deutschlandweit für Aufsehen. Aus den Prozessakten arrangierten Uni-Historiker mit der Shakespeare Company eine szenische Lesung im Landgericht.
Das Mädchen war der Prostitution bezichtigt worden und an der zwangsweisen Behandlung einer Geschlechtskrankheit gestorben. Dass die Mutter anschließend ein Tagebuch der Tochter fälschte, um festzuhalten, was Polizei und Ärzte ihr angetan hatten, brachte ihr eine Anklage wegen Kuppelei ein. Im Gericht, in der Bürgerschaft und in der deutschen Presse wurden die Details des unstatthaften Herrenverkehrs der jungen Kolomak lustvoll ausgebreitet. Die historische Momentaufnahme sichtbar zu machen, bedeutete für die beteiligten Studierenden, 600 Seiten aus den Akten des Fall Kolomaks im Staatsarchiv abzuschreiben, um damit Grundlage für eine szenische Lesung der gehaltvollen Art zu schaffen.