KSZE-Gipfel in Paris: Europa auf dem Weg ins 21.Jahrhundert
■ „Hier in Paris haben wir Europa auf den Weg ins 21. Jahrhundert gebracht“, lobte Bundeskanzler Helmut Kohl die KSZE-Konferenz. Wie Osteuropa dort ankommt, wird die Ökonomie entscheiden.
Mit dem „Wiener Kongreß“ hat Fran¿ois Mitterrand das Pariser Treffen der KSZE verglichen, fügte aber sofort hinzu, diesmal gebe es im Unterschied zu 1815 keine Sieger und keine Besiegten. Das ist eine höfliche Lüge, wenn man sich die Frage vorlegt, wer eigentlich den Kalten Krieg verloren hat.
Aber Mitterrand hat auch eine einfache Wahrheit formuliert. Als 1975 die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet wurde, war Europa in von den Supermächten dominierte Blöcke geteilt. Der Hauptertrag der KSZE schien in der Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen zu liegen und in der Aussicht auf etwas zivilisiertere Umgangsformen der Staaten untereinander bzw. gegenüber den ihrer Gewalt Unterworfenen. Heute haben demokratische Revolutionen das sowjetische Hegemonialsystem zerstört, und die Sowjetunion muß um ihren territorialen Bestand selbst in den Grenzen fürchten, die der Wiener Kongreß dem Zarenreich zugebilligt hatte. Aber die Sowjetunion Gorbatschows trat in Paris dennoch nicht als Besiegter auf. Das Imperium zerfiel, aber das gewaltige, teils geplante, aber noch mehr spontan verlaufene Rückzugsmanöver hat nicht zu den erwarteten, schrecklichen Erschütterungen geführt. Indem die Sowjetunion „do it your way“ gegenüber den ehemaligen Satelliten praktizierte, hielt sie sich das Tor offen für eine gemeinsame Politik mit den neuen osteuropäischen Demokratien. Die „Rückkehr nach Europa“ vereint heute den ehemaligen Zwingherrn und seine entlaufenen Knechte. 15 Jahre nach Abschluß der KSZE besteht die historische Möglichkeit, zusammen „nach Europa“ aufzubrechen.
Wird das westliche Europa sich dieser Herausforderung gewachsen zeigen? In der Ansprache des polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki wird von der „düsteren Wolke“ gesprochen, die die Armut der osteuropäischen Länder auf Europa werfe. Man könne, so Mazowiecki, im Ernst nur dann von einer europäischen Einheit sprechen, wenn der ökonomische Angleichungsprozeß nicht „auf ein unbekanntes Datum“ verschoben werde. Längst stehen für die osteuropäischen Länder nicht mehr langwierige Zwischenlösungen an. Es geht um die Aufnahme in eine verwandelte EG binnen Zehnjahresfrist.
Das vermindert nicht die Bedeutung der wenigen und an Kompetenzen armen gemeinsamen Institutionen, die jetzt in Paris beschlossen worden sind: regelmäßige Konsultationen, ein kleines permanentes Sekretariat, das noch völlig unkonturierte, mit allzuviel Hoffnungen befrachtete Zentrum zur Konfliktverhütung, die „Mechanismen“, die der Lösung von nationalen und Minderheitenkonflikten dienen sollen. All dies könnte dem Irrationalismus begegnen, der zunehmend das Verhältnis der ost- und südosteuropäischen Völker zueinander vergiftet. Ob allerdings ein dauerhaft demokratisches Europa möglich sein wird, hängt weniger von der KSZE und ihrem künftigen Institutionensystem ab. Jetzt gilt (wieder) das Primat der Ökonomie. Christian Semler
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