KOMMENTARE: Die Tabus fallen
■ Die Politiker werden unter dem Druck der Proteste zusammenrücken
Die Demonstranten von Leipzig werden keine neuen Arbeitsplätze schaffen und keine Strukturkrisen bewältigen, sie werden mit ihren Umzügen keine einzige Firmenpleite verhindern und keinen einzigen Arbeitslosen von der Straße holen. Aber sie können mit ihrem unüberhörbaren Protest die politischen Rahmenbedingungen für die ökonomischen und sozialen Umwälzungsprozesse beeinflussen, die derzeit in Ostdeutschland stattfinden. Insofern ist der häufig vorgetragene Einwand, auch noch soviel Demonstrationen könnten die ehernen Gesetze der Ökonomie nicht außer Kraft setzen, zumindest kurzsichtig. Er unterstellt eine Naturhaftigkeit des wirtschaftlichen Prozesses, der durch gesellschaftliches und politisches Handeln nicht beeinflußbar ist.
Richtig ist, daß mit der Grenzöffnung und der Währungsunion der Kollaps der ostdeutschen Wirtschaft vorprogrammiert war. Die Bevölkerung in den neuen Ländern hat dies nicht sehen wollen. Sie hat sich von der D-Mark-Demagogie nicht nur einwickeln lassen, sondern sie auch selbst in beispielloser Naivität hervorgelockt — nicht zuletzt auf den Straßen von Leipzig. Jetzt sind die Ernüchterung und die Enttäuschung groß. Es ist die Verbitterung über ein Täuschungsmanöver der Bonner Politik, das nur aufgrund massenhafter Selbsttäuschung funktionieren konnte. Um so schmerzhafter ist nun die Erkenntnis, daß es den „sanften Weg“ in die Marktwirtschaft nicht gibt, daß das „Tal der Leiden“ bis in die tiefsten Tiefen durchschritten werden muß und niemand, auch nicht die parlamentarische Opposition, daran etwas ändern kann. Das einzige, was sich zunächst und unmittelbar durch die Protestwelle verändert, sind die Menschen selbst.
Was Krise und Protestwelle real bewirken, ist ein Zusammenrücken der Bonner Politik, um die Entwicklung „steuerbar“ zu halten. Angesichts des massiven Scheiterns der neoliberalen Strategien der FDP muß die Regierung nun auf Rezepte zurückgreifen, die die Opposition für die Bewältigung von Strukturkrisen in Westdeutschland jahrelang vergeblich gefordert hat. Plötzlich sind Beschäftigungsgesellschaften, betriebliche und regionale Umschulungs- und Qualifizierungsmodelle kein Tabu mehr. Und die geforderten runden Tische in den Regionen und Kommunen wären nichts weiter als jene regionalen Strukturräte, die die SPD und die Gewerkschaften schon seit Jahren auch für westdeutsche Krisenregionen fordern. Insofern schafft die Krise in den neuen Ländern eine politische Konstellation, die inhaltlich auf eine Annäherung der großen Parteien hinausläuft. Dies muß nicht zur großen Koalition führen, aber wird absehbar in eine engere Kooperation zwischen den großen Parteien und Verbänden münden. Martin Kempe
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