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KOMMENTAREHerzflimmern

■ Amerika zwischen Moral und Realpolitik

Das Herz, so lehrt uns die moderne Medizin, ist nicht nur eine Maschine, sondern der Sitz von Gefühlen. Wer mit Herzbeschwerden zum Arzt geht, dem kann es passieren, daß er nach Sorgen, Kummer und Nöten gefragt wird. Welche Beschwerden plagen Amerikas oberstes Herz, daß es nicht mehr richtig tickt?

Vor drei Monaten marschierte Amerika unter der Führung seines obersten Befehlshabers und getragen von einer Welle von patriotischem Stolz in den Krieg. Amerika fühlte sich gut, endlich vertrat es wieder eine gerechte Sache. Doch als der irakische Diktator, der sein Überleben einem schnellen Waffenstillstand verdankte, die Kurden abschlachtete, ergriffen Scham und Zorn die Nation. Dem Triumph des militärischen Sieges folgte die Schande der moralischen Niederlage.

Wie keine andere Nation definierte sich Amerika über moralische Kategorien, eine Nation, die stets das Gute will, wenn sie dabei auch mitunter das Böse schafft. Die Gründe dafür liegen in Amerikas Geschichte als gelobten Einwanderungslands und in seiner demokratisch-revolutionären Traditon. Anders als andere Nationen haben die aus aller Herren Länder zusammengeströmten Amerikaner keine homogene Tradition, wie sie für andere Völker identitätsstiftend ist. Zusammengehalten wird Amerika durch den Glauben seiner Einwanderer an die bessere Welt, die jenseits der Meere machbar ist. Amerikaner zu sein hat also immer bedeutet, sich mit einem höheren Mandat zur Weltverbesserugn ausgestattet zu fühlen.

Zur Reife gelangte diese Bestimmung Amerikas durch den Zweiten Weltkrieg beim Niederwerfen Hitlers und beim Aufbau einer neuen und gerechteren Ordnung für Europa. In der Unterstützung, die Bush nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa für den Feldzug gegen den irakischen Diktator mobilisieren konnte, siegte das Holocaust-Trauma über das Vietnam-Trauma. Doch auf dem Höhepunkt moralischen Hochgefühls versank Amerika im moralischen Morast der Komplizenschaft mit einem Schlächter. Das realpolitische Festhalten an einem einheitlichen Irak auch um den Preis eines Massakers, weil ein dreigeteilter Irak den Orient in einen hundertjährigen Bürgerkrieg verstricken würde, beschwor den Vergleich mit Stalins Haltung im Warschauer Aufstand herauf.

Warum aber hat Amerika darauf verzichtet, wie im 2. Weltkrieg den Diktator zu entmachten und den Orient demokratisch zu ordnen? Weil der Orient nicht Europa ist und weil Bush fürchtete, daß die konsequente Fortführung einer moralischen Politik Amerika in ein militärisches und politisches Desaster, schlimmer als der Indochinakrieg, hineinziehen würde. Die Aporien von Moral- und Realpolitik sind es, die Amerikas Herz nicht mehr richtig schlagen lassen. Reed Stillwater

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