KOMMENTARE: Nebenwiderspruch Hauptstadtfrage
■ Die Forderung nach Volksentscheid ist doch richtig
Auch wenn jetzt die Suche nach dem großen Konsens von Berlin bis Bonn ausgebrochen ist, behält die SPD mit ihrer Bremer Vorführung die Nase in der Hauptstadtfrage vorn. Dort hatten die Sozialdemokraten das Debakel in seiner ganzen Schönheit präsentiert — ein klares 203:202 für Bonn. Seitdem soll das Volk ran und selbst Klarheit in der Schicksalsfrage schaffen. Und seitdem versuchte die Union, den SPD-Vorstoß mit Argumenten abzubiegen, die schon Grund genug sind, dem Vorschlag beizupflichten. Monatelange wahlkampfähnliche Auseinandersetzungen fürchtet die CDU mit ihrem Rühe. Was in jedem Propagandaopuskel für die parlamentarische Demokratie als große Chance zur Willensbildung des Souveräns verkauft wird, jagt dem Christdemokraten nun Gruseln ein. Wir verstehen: Die Hauptstadtfrage lohnt derartigen Aufwand nicht. Wohl wahr.
Aber gerade das sagen CDU und Rühe und all die Kombattanten ja nicht; die inszenieren die Wahl zwischen Bonn und Berlin munter weiter als Haupt- und Staatsaktion. Was lernen wir also daraus? Das Volk ist genauso dumm wie seine Vertreter, und das wird sich auch durch wahlkampfähnliche Debatten vor einem Volksentscheid nicht ändern. Möglich ist das, aber nicht sicher: Das Rühe- Argument fällt auf seinen Herrn zurück.
Die Sozialdemokraten bleiben sich immerhin treu: Eine Hauptstadt ist eine wichtige Angelegenheit, ihren Symbolwert für den Zustand des Gemeinwesens darf man nicht unterschätzen, es geht um Geschichte und Gegenwart und Zukunft, und da ist es doch recht und billig, den Souverän über das Symbol seiner Staatlichkeit zu Rate zu ziehen. Aber die Sozialdemokraten zeigen, wie meist, nur begrenzte Courage. Dem Vorschlag bleibt bei allem guten Willen der Geruch der Ausputzervariante nach dem Versagen der Politikerkaste anhaften. Und außerdem geht es ja nur um die Hauptstadt. Was wäre denn, wenn die Garantie des Asylrechts zur Abstimmung stünde oder der Einsatzauftrag der Bundeswehr? So etwas würde der Debatte um den Volksentscheid erst seine eigentliche Brisanz geben, und wer weiß, wie der Souverän da bestimmen würde?
Trotz allen Vielleicht-aber-besser-doch-nicht- Geschmacks ist die Forderung nach einem Volksentscheid dennoch richtig. (Auch wenn der Bundespräsident dementieren ließ, daß er sie richtig findet.) Denn sie ist geeignet, politische Bewegung in das eigentlich Wichtige zu bringen: Die Verfassung ist die Nagelprobe des sogenannten Einigungsprozesses — die Hauptstadtfrage ist nur der Nebenwiderspruch. Zur Verfassungsdiskussion aber gehört die Einführung plebiszitärer Elemente. Was soll denn das Neue am neuen Deutschland sein, wenn sich die Korrektur seiner Verfassung auf den Marschauftrag deutscher Soldaten out of area beschränkt? Über die Verfassung müssen monatelange, wahlkampfähnliche Debatten geführt werden, über sie muß das Volk abstimmen. Auch über den Verfassungsartikel Volksabstimmung. Aber dazu muß man der Demokratie trauen. Und dem Volk, dem doofen. Andreas Rostek
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