KOMMENTARE: Der Gang des Rechtsstaates
■ Das Urteil gegen Harry Tisch ist unbequem, aber berechtigt
Harry Tisch — ein freier Mann: Das wird vielen, besonders in der Ex-DDR, bitter aufstoßen. Schließlich war der frühere Gewerkschaftsboß der erste der ranghöchsten Funktionäre, die sich für 40 Jahre realen Sozialismus und dessen Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückungen vor Gericht verantworten sollen. Daß „Dirty Harry“ nun mit einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten das Berliner Landgericht als „freier“ Mann verlassen kann, dessen Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, mag besonders ehemaligen DDR-Bürgern als blanker Hohn erscheinen.
Trotzdem geht das Urteil in Ordnung. Gerade diejenigen, die den Sturz des Honecker-Regimes betrieben haben und für eine freiheitliche, demokratische Gesellschaftsordnung angetreten sind, müssen den Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ selbst für die höchsten Genossen anerkennen — andernfalls wäre einer politisierten Justiz, wie sie die DDR von Beginn an betrieb, wieder Tür und Tor geöffnet. Ein politisches Urteil über die Machenschaften des FDGB-Vorsitzenden wäre nur möglich gewesen, wenn es in der DDR einen revolutionären Umbruch und den nachfolgenden Übergang zu einem anderem Rechtssystem gegeben hätte. Das ist durch die Übergangsregelungen im Einigungsvertrag hinfällig geworden.
Zu Recht haben die Berliner Richter auch betont, daß von ihnen eine politische und historische Aufarbeitung nicht geleistet werden kann. Daß der kleine Postbote auf seine Vergangenheit hin durchleuchtet und gegebenenfalls „wegen Stasi-Verdachts“ aus dem öffentlichen Dienst geschmissen wird, während die Obristen der Stasi in der Marktwirtschaft schon wieder ein warmes Nest gefunden haben, ist in erster Linie ein politisches und gesellschaftliches Problem und vor Gericht schlicht nicht aburteilbar. Lächerlich mag auch erscheinen, daß der frühere Chef der Zwangsgewerkschaft gerade einmal über umgeleitete Gelder zur Finanzierung seiner und andere Erholungsurlaube stolpert. Solange aber nicht versucht wird, Kriterien dafür zu entwickeln, wo die politische und wo die juristische Verantwortung der einzelnen im System DDR liegt, so lange werden zwangsläufig Urteile wie das gegen Tisch gefällt werden müssen, vorausgesetzt, eine Anklageerhebung ist nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten überhaupt möglich. Paradoxerweise wird der einzelne Todesschütze an der innerdeutschen Grenze wegen Totschlags angeklagt und vielleicht bestraft werden. Seine Auftraggeber hingegen bleiben ungeschoren: einmal, weil nach juristisch eindeutigen Kriterien umstritten ist, wer die Befehle gab; zum anderen, weil überhaupt unklar ist, wie Regierungskriminalität im Rechtssystem der Bundesrepublik zu verfolgen wäre. Der Bevölkerung in den neuen Bundesländern mag das — zu Recht — nicht passen. Sie hat sich aber ohnehin von der Diskussion verabschiedet, wie es dazu kommen konnte, daß ein kleiner Haufen machtbessener SED-Funktionäre und in ihrem Gefolge die Staatssicherheit die Geschicke von nahezu 17 Millionen Menschen bis ins letzte Detail steuern konnte. Solange sich das nicht ändert, sollte man es mit Wolf Biermanns Worten halten: „Rente statt Rache“. Wolfgang Gast
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