KOMMENTARE: Berlin, Stadt der Fragen
■ Die Entscheidung macht es der geteilten Stadt nicht leichter
Es war ja weniger ein geflügeltes Wort als ein gepreßter Stoßseufzer, jenes Berlin-nun- freue-dich von Walter Momper nach der Maueröffnung. Als dann die Berliner den Schock des plötzlichen Endes der Teilung überwunden hatten und nach dem Augenreiben wieder anfingen zu sehen, freuten sie sich keineswegs. Die Teile der Stadt standen und stehen sich weiter gegenüber: verunsichert, verbittert, gekränkt und vorwurfsvoll. Ist also jetzt Freude angesagt? Man kann sich freuen, daß mit der Entscheidung für Berlin die „schwierige Nation“ nicht die Welt mit ihrer hohen Moral und ihren kleinkarierten Interessen quält, sondern einfach mal das Richtige tut. Wer aber für Berlin im Namen der Strukturpolitik und des Haushaltsdefizits kämpfte, wird sich noch wundern. Eine Entscheidung für Bonn hätte Berlin wohl mehr Geld, mehr öffentliche Mittel gebracht. Schon aus kompensatorischen Gründen wäre die Geschlagene mit der Finanzierung der schönsten Subventionopolis Mitteleuropas abgefunden worden.
Die Wahl Berlins wird anstehende Prozesse enorm beschleunigen. Schon liefen die Fax-Apparate der Immobilienagenturen heiß: die Innenstadt, das Objekt der Begierde. Da der Umzug von Parlament und Regierung sich Zeit läßt, werden alle anderen gesellschaftlichen Kräfte das städtische Feld besetzen. Die Politik wird sich verspäten. Politischer Neuanfang im vereinten Land, wie im Bundestag geschworen? Schön wär's; dann müßte aber sofort umgezogen werden. Es wäre gut, wenn die saturierte Bonner Beamten-und Parlamentswelt sich in den Lysol- und depressionsgeschwängerten Räumen der untergegangenen Hauptstadt der DDR mit den Alltagsproblemen der getrennten Stadt herumschlagen müßte. Dann würde die Realität das auferlegen, was längst gefordert ist: Reformen in einem vereinten Land.
Diese Entscheidung wird keine der innerstädtischen Probleme lösen, im Gegenteil: Sie wird alle innerstädtischen Widersprüche verschärfen. In den städtischen Ost-West-Gegensatz wird jetzt die ganze Sphäre der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft implantiert. Zudem: Der Bundestag hat sich nicht so sehr für Berlin als für die Realität des gespaltenen Landes, für die Ostverschiebung entschieden. Das Umland, die ostdeutschen Länder und wohl auch Polen und die Tschechoslowakei verbinden mit der Entscheidung politische Erwartungen. Durch Berlin kann da wenig gelöst werden, ob in Berlin, steht dahin. Berlin ist die Stadt der Fragen, während Bonn die Stadt der Antworten spielte. Berlin würde gleich am Anfang versagen, wenn es die Berlin-Entscheidung für eine Antwort hielte. Die Stadt muß vielmehr schnell begreifen, daß die Wohlstandsutopie, wonach man alle Widersprüche sozialstaatlich abfangen könne, vorbei ist, ohne deswegen in Resignation zu verfallen. Sie muß schnell lernen, öffentlichen Streit und zivile Regeln der Auseinandersetzung zu entwickeln, ohne Lösungen versprechen zu können. Mit einer solchen, in Deutschland noch unbekannten Stadtkultur allein wäre der hohe Anspruch einzulösen. Klaus Hartung
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