KOMMENTARE: Votum gegen Europa
■ Das türkische Wahlergebnis sollte den Eurokraten zu denken geben
Einen Tag nach den Wahlen in der Türkei gibt es nur zwei Gewißheiten: Erstens, eine neue Regierungsbildung wird kompliziert und langwierig, und zweitens, der eigentliche Sieger der Wahl sind die islamischen Fundamentalisten. Mit 17 Prozent hat die Wohlfahrtspartei Erbakans ihr Potential gegenüber den letzten Wahlen vor dem Putsch 1980 mehr als verdreifacht. Und das, obwohl die meisten Beobachter der türkischen Politszene den Zenit der islamischen Bewegung längst für überschritten hielten. Doch der Verdruß über die Regierungspolitik der letzten Jahre ging für viele offenbar weiter als bis zu Demirel oder Inönü.
Zwar setzen Sozialdemokraten auf der einen, die konservative Mutterlandspartei und Demirels Partei des Rechten Weges jeweils unterschiedliche Akzente — die eigentliche Systemalternative aber ist die islamische Wohlfahrtspartei im Verbund mit den Altfaschisten von Alparslan Türkes. Gemeinsam ist beiden die Ablehnung des demokratischen Systems westeuropäischen Musters, die Westorientierung der Türkei als solches. Erbakan will weg von Europa und eine führende Rolle der Türkei in einem Verbund islamischer Staaten, Türkes träumt vom großtürkischen Reich mit den Turkstämmen in Ostasien. 17 Prozent für dieses Konglomerat aus islamischem Fundamentalismus und Rassismus sind ein herber Schlag für alle Demokraten des Landes.
Bewirkt haben dies die Militärs, die in der jüngeren türkischen Geschichte immer wieder gezeigt haben, daß es mit der Demokratie im Lande nicht so ernst gemeint ist. Und dazu beigetragen haben auch die Westeuropäer, die die islamische Türkei trotz gegenteiliger Versprechen nicht in den Klub der Reichen aufnehmen wollten.
Mit der Ablehnung des türkischen Antrags auf Mitgliedschaft in der EG vor einem Jahr haben die Westeuropäer nicht nur Turgut Özal, sondern alle diejenigen desavouiert, die sich für die Westintegration des Landes, inklusive Demokratie und Menschenrechte, stark gemacht haben. In der Türkei hatte diese Entscheidung Signalwirkung weit über die Parteigrenzen hinaus. Fast jeder empfand den Verweis auf die Verletzung der Menschenrechte als vorgeschoben und deshalb heuchlerisch. Dies führte dazu, daß immer mehr Türken sagten: Wenn die Europäer uns nicht wollen, müssen wir uns eben woanders umsehen. Die EG sollte dieses Signal entsprechend zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren. Tut sie es nicht, braucht man sich in Europa nicht zu wundern, wenn die Türkei immer weiter ins islamische Lager abwandert. Jürgen Gottschlich
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