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KOMMENTAREDie Flucht der Flüchtlinge

■ Die Greifswalder Asylsuchenden wollen nicht länger anonyme Manöviermasse sein

Wenn Günther Jansen von einem Schlägertrupp mit Knüppeln, Leuchtmunition und Pflastersteinen bedroht wird, hat er zwei Möglichkeiten: er holt die Polizei oder er läuft weg. Tut er ersteres rechtzeitig, ist seine Sicherheit vermutlich gewährleistet, denn im Falle eines sozialdemokratischen Landessozialministers wird die Polizei daran interessiert sein, sich nicht dem Vorwurf eines lustlosen Einsatzes auszusetzen. Die Flüchtlinge aus Greifswald hatten nur eine Option zur Auswahl: Weglaufen. Denn die mecklenburgische Polizei hat sie nicht nur schutzlos gelassen, sondern setzte ihnen die Hooligans auch noch vor die Haustür.

Nun kann man darüber spekulieren, wo dieses Verhalten auf der Skala zwischen Vorsatz und Dummheit einzuordnen ist. Die Asylsuchenden taten das aus ihrer Sicht einzig Richtige: sie flohen dorthin zurück, wo sie sich subjektiv sicherer fühlen — nach Schleswig-Holstein, obwohl ihnen auch dort niemand absolute Sicherheit garantieren kann. Sie nahmen nicht nur das Grundrecht auf Asyl in Anspruch, sondern auch das auf körperliche Unversehrtheit. Der schleswig-holsteinische Sozialminister findet das unbotmäßig, weil es die Verteilungsquoten von Asylsuchenden für die einzelnen Bundesländer durcheinanderbringt. Der mecklenburgische CDU-Innenminister findet die Flucht der Flüchtlinge aus seinem Bundesland ebenfalls unbegründet, ihre Angst künstlich und von außen manipuliert. Doch am meisten scheint die beiden Politiker zu empören, daß da eine Gruppe vermeintlich unmündiger Behördenmündel sich zur Wehr gesetzt hat — und sei es nur dadurch, daß sie erneut geflohen sind.

Ihr Handeln ist in zweifacher Hinsicht mutig und verdient Unterstützung: Sie wollen sich nicht mehr als Manövriermasse für die Verteilungsstatistiken der Innenminister mißbrauchen lassen. Und sie wollen sich auch nicht als pädagogische Versuchsobjekte vermeintlich ausländerfreundlicher Wessis hergeben, die die Ossis an den Umgang mit Fremden gewöhnen wollen.

Das ist ihr gutes Recht und ihre einzige Chance, solange es in diesem Land unmöglich ist, alltägliche Gewalt gegen Asylsuchende und Immigranten zu einem politischen Skandal zu machen. Wäre sie das, dann würden Einsatzleiter gefeuert, die Hooligans vor Flüchtlingswohnheimen parken lassen; dann müßten Minister zurücktreten, die sich um den Quotenschlüssel mehr Sorgen machen als um den Schutz von Asylsuchenden. Andrea Böhm

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