KOMMENTARE: Hoffnungsschimmer
■ Der 9. November räumt aber die Zweifel an der deutschen Demokratie nicht aus
Na endlich, kann man nur sagen. Es stimmt schon nachdenklich, daß erst Wochen und Monate vergehen, zahlreiche Flüchtlingsheime in Brand gesteckt, Menschen totgeschlagen, aus den Fenstern geworfen, erstochen werden mußten, bis sich in deutschen Landen etwas rührte. Es sind über Hunderttausend gewesen, ein nicht geringer Teil davon Ausländer, die am 9. November in vielen ost- und westdeutschen Städten auf die Straße gingen, um sich dem Treiben der Neonazis zur Wehr zu setzen. Politiker aus den ersten Rängen waren, mit Ausnahme von Lafontaine, nicht dabei. Im Gegensatz zu Mitterrand begnügte sich Helmut Kohl mit einem Bedauern am Rednerpult im Bundestag, einem Bedauern, das er mit einem „aber“ und denselben Argumenten ergänzte, die man in vereinfachter Form als Argumente der Gewalttäter kennt und hört.
Bei den Kundgebungsreden gab es reichliche Solidaritätsbekundungen gegenüber Ausländern, auch an Hinweisen auf die deutsche Vergangenheit, auf die Judenverfolgungen fehlte es nicht. Und nicht zuletzt darauf, daß Deutschland ohne die hier lebenden fünf Millionen Ausländer ein ödes, langweiliges und sicherlich auch für viele Deutsche unerträgliches Land wäre. Ist dies nun der Beweis dafür, daß die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes endlich begriffen haben, daß die Barbarei, die schon seit Monaten die innenpolitische Szene beherrscht, sich nicht allein gegen Flüchtlinge und gegen Ausländer im allgemeinen richtet, sondern daß sie im Grunde ein Angriff gegen die zivile Gesellschaft bedeutet, der, falls nicht früh genug gebannt, bald auch Deutsche treffen wird? Haben sie begriffen, daß sich die Demokratie nicht in der Akzeptierung des Gewaltmonopols des Staates und der bestehenden Gesetze erschöpft, sondern daß die Demokratie erst dann zur Substanz einer Gesellschaft wird, wenn sich die Menschen überall, wo sie sich befinden, dem Unrecht widersetzen, daß die Demokratie ohne eine ständige, lebendige und handlungsfähige zivile Gesellschaft immer brüchig bleibt? Die Demonstrationen vom 9. November bilden einen Hoffnungsschimmer. Die Zweifel räumen sie nicht aus. Bahman Nirumand
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