KOMMENTARE: Angst und Ratlosigkeit
■ Die USA nach dem Absturz ihrer kongenialen Führungsfigur Gorbatschow
Für Regierung wie öffentliche Meinung der USA war Michail Gorbatschow der perfekte Konterpart. Seine Charaktermischung aus „bolschewistischem Schwung und amerikanischer Sachlichkeit“, von Stalin in den 20er Jahren zum Kaderideal erhoben, befriedigte das Verlangen nach der großen Persönlichkeit. Waren doch in den zwei Jahrzehnten nach dem Sturz Chruschtschows den Amerikanern nur Gestalten gegenübergetreten, die als oberste Subalterne ihres Regimes funktionierten. Gorbatschow, der moralische Visionär, war gut fürs puritanische Gemüt, Gorbatschow der Rationalist aber war unverzichtbar für die Politik des strategischen Gleichgewichts, der Friedenssicherung durch Supermachtskontrolle.
Der Absturz der kongenialen Führungsfigur verbreitet nun Angst und Ratlosigkeit bis in die Führungsgruppe des State Department. Es mangelt nicht an Horrorszenarien, nach denen die Rote Armee samt ihrer einheitlichen Entscheidungsstruktur an ethnischen Linien auseinanderfällt, Diadochenkämpfe auf dem Territorium des vormaligen Imperiums mit Atomwaffen ausgetragen, Vernichtungs-Know-how, Raketen und Sprengköpfe an die Meistbietenden verhökert werden. Die US- Administration sähe es am liebsten, wenn Rußland den Platz der UdSSR einnähme und mit dem weltweiten Krisenmanagement auf bipolarer Basis fortgefahren werden könnte. Voraussetzung wäre die „Entnuklearisierung“ der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans, eine Forderung, die bereits von James Baker III erhoben worden ist. Die Angstreaktionen der amerikanischen Politiker entspringen keineswegs nur dem Trennungsschmerz vom geliebten sowjetischen Partner. Daß das atomare Potential der vormaligen Sowjetunion außer Kontrolle gerät, ist eine reale Gefahr. Nur entgeht denen, die diese Gefahr beschwören, daß auch die Politik der neuen Machteliten in den vier Atom-Nachfolgestaaten der Sowjetunion von rationalen Maximen geleitet ist. Die amerikanische Seite unterstellt, daß keiner dieser Nachfolgestaaten leichthin auf sein atomares Potential verzichten wird. Aber die Doktrin: „Souverän ist, wer über den Einsatz von Atomwaffen gebietet“, wird in den neuen Republiken nicht einfach nachgebetet. Am Widerspruch zwischen militärischer Kraftentfaltung und ökonomischem Siechtum hat sich die Kritik an der untergehenden Zentrale festgemacht. Weder Jelzin noch Krawtschuk, noch Nasarbajew gehören dem Politikertypus an, der aus der Befugnis, „den Knopf drücken zu können“, Gefühle der eigenen Erhabenheit schöpft.
Die Vorschläge dieser Staatsleute zur gemeinsamen Kontrolle des atomaren Potentials, ihre Zusicherung, bestehende Verträge einzuhalten, kann man für bare Münze nehmen. Und sie werden in Erwartung barer Münze aus dem Westen gemacht. Es ist dieses letztere Motiv, an das sich die westlichen Politiker halten sollten Christian Semler
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