KOMMENTARE: Ungeahntes Ausmaß
■ Die Schatten der Stasi werden dunkler und länger
Es ist fast schon unglaublich, in welchem Ausmaß der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR die eigene Bevölkerung tatsächlich bekämpft hat. Über Bespitzelungen, Denunziationen und Eingriffe in die berufliche Karriere hinaus hat der von Armeegeneral Erich Mielke geleitete Repressionsapparat systematisch versucht, auch die Existenz einzelner gezielt zu vernichten. Das Beispiel des sächsischen Innenministers Heinz Eggert, der nach dem Studium seiner Akten nun befürchten muß, bewußt und willentlich mit einem im Labor gezüchteten lebensgefährlichen Virus infiziert worden zu sein, und dessen Tochter beinahe an der dadurch verursachten Krankheit gestorben ist, legt die ganze Tragweite einer dumpfen Logik im Mielke-Ministerium an den Tag, die in letzter Konsequenz bereit war, Oppositionelle und Andersdenkende auch physisch aus dem Weg zu räumen.
Das Beispiel des früheren Studentenpfarrers in Zittau wird kein Einzelfall bleiben. Nur dürfte nicht jeder die schockierenden Informationen aus dem Stasi-Nachlaß so gefaßt aufnehmen wie Sachsens Innenminister Eggert oder wie die anderen prominenten Mitglieder der Bürgerbewegung, die einen um den anderen Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi in ihrem engsten Freundeskreis feststellen müssen. Dringend notwendig wäre es nun, über Formen nachzudenken, wie der Prozeß der Stasi- Aufarbeitung gesellschaftlich organisiert werden kann; wie zu verhindern wäre, daß einzelne, die nach Studium ihrer Akten die eigene Biographie neu bewerten müssen, nicht alleine gelassen werden. Die Erfahrungen der Wenigen, die das über sie angelegte Stasi-Material bisher auswerten durften, beweisen sinnfällig, wie notwendig die Öffnung der Stasi-Archive war. Ohne das Wissen über den Eingriff in das eigene Leben ist der schmerzliche Prozeß eines Verzeihens und einer Aussöhnung mit den Hunderttausenden Stasi-Mitgliedern nicht möglich. Wer aber jetzt, nach Kenntnis der Akten, der Gauck-Behörde weiterhin inquisitorische Absichten oder ein gottgleiches Handeln unterstellt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes zu verharmlosen und letztlich Täter mit Opfern zu verwechseln.
Am Beispiel von Hans Eggert zeigt sich aber auch, daß die Zuarbeit der Inoffiziellen Mitarbeiter für das Mielke-Ministerium in aller Regel unterschätzt wird. Bei einem Mediziner, der bereit ist, einen Patienten mit Psychopharmaka vollzupumpen und seinen Krankheitszustand künstlich zu verlängern, spielt es keine Rolle, ob er dies als hauptamtlicher oder als mehr oder weniger „ehrenamtlicher“ Mitarbeiter tat. Der Grad der Verstrickung von „Inoffiziellen“ in die im Stasi-Jargon als „Zersetzung“ bezeichneten Maßnahmen läßt sich nur — und darauf muß man insistieren — im jeweiligen Einzelfall ermessen. Dann muß es allerdings auch möglich sein, gegen einzelne mit strafrechtlichen Mitteln vorzugehen. Wolfgang Gast
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