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KOMMENTAREAlgerien, ein Alptraum

■ Unter Druck setzt der politische Islam seine politische Gewalt frei

Sonntag nacht rief mich ein algerischer Freund, Historiker mit Pariser Lebensgefühl, erschüttert an: „Eben war Boudiaf im Fernsehen. Grauenhaft. Ein Alptraum. Der apokalyptische Reiter. Nach dem Putsch habe ich eine Flasche Wein aufgemacht, auf das Wohl der Junta. Jetzt verkündet Boudiaf den Ausnahmezustand und die Auflösung der Islamischen Heilsfront und sagt auch noch: ,Der Demokratisierungsprozeß geht weiter.‘ Das ist der Anfang vom Ende. Das einzige, was diese Zauberlehrlinge vorbereiten, ist die Islamische Republik.“

Die erschreckte Wende meines Freundes ist repräsentativ für die algerische Intelligenz. Mit klammem Unbehagen beobachten sie, wie die Junta von General Khaled Nezzar offenbart, daß sie für ein Algerien steht, das niemand mehr will — das der Clans, des militärisch-industriellen Komplexes und der Verelendung. Der Historiker: „Wir waren auf dem Weg in ein besseres Morgen. Jetzt wird vielen klar, daß wir hoffnungslos in die Dritte Welt absinken. Warum keine Regierung der nationalen Versöhnung unter Einschluß der Islamisten? Statt dessen zettelt General Nezzar einen Krieg gegen das Volk an.“

Die Junta, denken immer mehr AlgerierInnen, betreibt, mit fraglichem Erfolg, den Kampf gegen die Islamisten und für die Privilegien der Nomenklatura, verbaut damit aber auf absehbare Zeit den Weg für alle ausgewogeneren Lösungen der Krise. In der Kasbah feierten die Frauen Montag nacht die Ermordung von acht Polizisten durch die „Kabulis“ — Afghanistan-Veteranen — mit einem Pfannenkonzert. „Ausnahmezustand? Na und?“ sagen sie hier. „War doch schon vorher. Auflösung der FIS? Um so besser. Dann haben wir endlich die Hände frei für unsere Selbstverteidigung.“

Die Auflösung der Islamisten-Organisation ist nicht nur ungewiß — viele FIS-Kader sind längst abgetaucht. Sie zerstört auch die einzige Klammer, die weite Teile der algerischen Bevölkerung zusammenhielt. Das F im Kürzel FIS steht für Front. In der FIS waren über zweitausend Organisationen zusammengefaßt, von pietistisch-konservativen Religiösen über Sozialrevolutionäre und enttäuschte Islamo-Marxisten bis zu integristischen Hardlinern. Die FIS war doppelgesichtig — hier empanzipatorische Kraft, eine Art Befreiungstheologie — da konservative Partei. Die Zusammenfassung der Islamisten ermöglichte die Ausrichtung auf eine islamisch-kapitalistische Linie. Davon zeugt das FIS-Wirtschaftsprogramm. Das ist auch der Grund, wieso Saudis und Amerikaner die Moslembrüder im ganzen arabischen Raum gezielt förderten. Sie waren, unterm Strich, ein Wall gegen die revolutionär-nationalistische Versuchung.

Mit der Zerschlagung und der blutigen Repression setzt die Junta die widerstrebenden Kräfte frei. Die verelendete männliche Jugend Algeriens, die jetzt in Massen zur Stadtguerilla der „Afghanen“ und anderen Kräften überlaufen, haben letztendlich mit dem Islam wenig am Hut. Unter Druck setzt der politische Islam seine politische Gewalt frei. General Nezzar kann die FIS auflösen. Kann er das Volk auflösen? Oliver Fahrni

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