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KOMMENTARELeicht lernbehindert

■ Das Historienstück gegen Erich Mielke schleppt sich in den nächsten Akt

Durchhalten! Das Verfahren gegen Erich Mielke wird fortgesetzt. Nachdem sie den Tenor ihrer Entscheidung schon vorab via 'Bild‘-Zeitung mitgeteilt hatten, setzten die Richter der 23. Großen Strafkammer gestern auch den Angeklagten und die nicht 'Bild‘ lesende Öffentlichkeit von ihrer Entscheidung in Kenntnis. Dafür ein herzliches Dankeschön! Das Hohe Gericht zeigte sich fest entschlossen. Es setzt seinen halsbrecherischen Ritt über das Glatteis deutscher Vergangenheiten fort; eine strafrechtliche Parforce- Tour, die es besser nicht begonnen hätte.

Die rechtlichen und politisch-historischen Einwände gegen die fotokopierte Neuauflage einer Anklageschrift aus dem Jahr 1934 sind bekannt und lassen sich nicht — wie gestern wieder geschehen — mit dem Verweis auf die damals angeblich noch bestehende Unabhängigkeit der Justiz beiseite schieben. Selbstverständlich ist Erich Mielke auch weiterhin kein von der Klassenjustiz malträtierter Antifaschist, sondern ein Angeklagter, der zur Sache schweigt, aber die Kautelen des Rechts auf seiner Seite hat: Die Verjährung von Straftaten ist keine Formalie minderer Bedeutung, keine nachrangige gesetzliche Regelung, an der nach dem Opportunitätsprinzip herumgedoktert werden darf, kein Anlaß für juristisches Schauturnen — das Prinzip der Verjährung beinhaltet die Frage nach materieller Gerechtigkeit in Abhängigkeit vom Faktor Zeit.

Andererseits ist die gestrige Fehlentscheidung eines sichtlich überforderten Gerichts kein prinzipieller Beinbruch: Eine rechtsstaatlich strukturierte Gesellschaft strebt nicht nach der irrtumsfreien Rechtsmaschinerie. Sie will den utopischen, sich bald gegen die Menschen richtenden Perfektionismus nicht. Sie akzeptiert den Irrtum als allgegenwärtige condition humaine. Die Kraft einer so verfaßten Gesellschaft erweist sich in der institutionellen und öffentlichen Fähigkeit zur andauernden Selbstkorrektur. Nur ist diese Fähigkeit in der juristischen Frontprovinz des Kalten Krieges eben kaum entwickelt. Der dem Tatortprinzip folgenden generellen Zuständigkeit der Berliner Justiz für die Regierungskriminalität der DDR gibt inzwischen zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß.

Nebenbei: In den 60er Jahren versuchte der Jüdische Weltkongreß vergeblich, diesem Prinzip in Berlin zum Durchbruch zu verhelfen — kein einziges großes NS-Verfahren wurde hier verhandelt; das überließ man gerne den Staatsanwälten in Frankfurt am Main. Immerhin, könnte man also sagen: Die Berliner Strafjustiz lernt. Leicht lernbehindert, wie sie nun einmal ihrer frühkindlichen Defizite wegen ist, erfordert das in besonderem Maße Geduld. Abwarten! Durchhalten! Götz Aly

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