KOMMENTARE: Zusehen beim Krieg?
■ Im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt fehlt die neutrale Ordnungsmacht
Das Massaker an der aserbaidschanischen Bevölkerung in Hocali hat eine Dynamik ausgelöst, die zwangsläufig in einen armenisch- aserbaidschanischen Krieg münden wird. Noch geht der Kampf um die armenische Enklave Berg- Karabach, aber die Ankündigungen der Volksfront Aserbaidschans, der Konflikt sei erst mit der Niederlage der Armenier beendet, zeigt einen unerbittlichen Kriegswillen, der von der Generalmobilmachung in Armenien ergänzt wird. Für beide Seiten geht es nicht nur um das Bergland Karabach, es geht um die nationale Symbolik, um die Geschichte, die vermeintliche nationale Identität. Folgerichtig werden all diejenigen, die noch politische Rationalität verkörpern, beiderseits als Verräter gebrandmarkt.
Der Rücktritt des aserbaidschanischen Präsidenten Mulatibow signalisiert nicht nur das Ende der aserbaidschanischen Nomenklatura in ihrer alten Form, sondern auch den Verlust mäßigender Maßstäbe bei den nationalistischen Auseinandersetzungen. Die stalinistischen Eliten in allen Ländern des ehemaligen Ostblocks haben spätestens seit den sechziger Jahren nationalistische Strömungen zum Zwecke des eigenen Machterhalts instrumentalisiert. Damit bereiteten sie den Boden für den Ausbruch des Nationalismus. Das war auch im (Trans-)Kaukasus so. Es gehört zur Tragik der Perestroika-Periode, daß in den meisten Republiken der Ex-UdSSR die alten Herrschaftsverhältnisse erst dann zusammenbrachen, nachdem die demokratischen Inhalte der Volksbewegungen durch den Nationalismus überlagert worden waren. Hinzu kommt, daß Teile der stalinistischen Eliten sich mit veränderten ideologischen Vorzeichen an die Spitze der Volksbewegungen setzten. Die den demokratischen Inhalten verpflichteten Intellektuellen dagegen wurden politisch erneut marginalisiert. Es gibt also wenig Hoffnung darauf, daß in beiden Ländern aus eigener Kraft, von innen heraus, die Emotionen gezügelt, politische Rationalität durchgesetzt und somit eine Eskalation des Krieges vermieden werden könnte.
Auch die internationalen Konstellationen sind nicht günstig für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Der Rückzug der GUS-Truppen aus Berg- Karabach und die Erfahrungen beider Länder mit der Moskauer Dominanz zeigen an, daß Rußland vorerst als Schiedsrichter kaum in Frage kommt und kommen will. Andere „ehrliche Makler“ aber kann die Region nicht bieten. Die Interessen des Iran sind zu eng verknüpft mit der Furcht, die aserbaidschanische Frage könnte sich im eigenen Land stellen — leben doch über zehn Millionen Aserbaidschaner in Nordiran. Und der Nato-Staat Türkei, der das politische Vakuum für seine Zwecke nutzt, ist angesichts seiner Geschichte von vornherein Partei. Die Erinnerung an das Massaker an den Armeniern 1915 läßt in Eriwan nur Ängste wachsen, die Orientierung der zentralasiatischen Turkvölker auf die Türkei beschwinge den pantürkischen Nationalismus in Istanbul selbst.
Schon jetzt klingt in dem Konflikt noch eine andere, noch größere Tragweite an. Wenn nämlich türkische Militärberater in Aserbaidschan aktiv werden, wenn westliche Länder, sei es auch im Geheimen, Waffen an Armenien liefern, wenn in beiden Ländern der Kampf zu einem Krieg zwischen Islam und Christentum hochstilisiert wird, dann könnte die Auseinandersetzung um Berg-Karabach den in den letzten Jahren schwelenden Gegensatz zwischen dem Westen und der islamischen Welt erneut verschärfen.
Angesichts dieser Szenarien stellt sich erneut die Frage nach den Konfliktregularien der Weltgemeinschaft. Die vollmundig vom US-Präsidenten Bush ins Spiel gebrachte neue Weltordnung übersteigert selbst die Kräfte der USA. Die Tendenz zum Isolationismus deutet sich immer mehr an. Europa ist (glücklicherweise) nicht in der Lage, weltweit zu operieren. Ganz offensichtlich sind die Vereinten Nationen überfordert, bei allen Konflikten dieser Welt mit Friedenstruppen einzugreifen. Allein die neuen gigantischen Projekte in Kambodscha und im ehemaligen Jugoslawien führen die UNO an den Rand der eigenen Belastbarkeit. Seit die Organisation im Golfkrieg durch die USA instrumentalisiert wurde, durchlebt sie zudem eine Legitimationskrise. Es ist aber höchste Zeit, sie wieder zu der Instanz zu machen, die neu entstehende Konfliktherde zu befrieden in der Lage ist. Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen