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KOMMENTAREAusstiegshilfe statt Nachrüsthilfe

■ Das AKW-Unglück bei St. Petersburg zwingt zum Umdenken in der Hilfe für die GUS

Mit einem Schlag waren sie erschreckend präsent, jene fast schon vergessenen, trügerisch-freundlichen Maitage im Frühjahr 1986, als die Strahlenwolke aus der fernen Ukraine sich über halb Europa entlud. Die kollektive Verdrängung erfuhr für ein paar Stunden eine jähe Unterbrechung, als sich bei Sankt Petersburg ein Unglücksreaktor selbst ausschaltete, doch weitere fünfzehn Tschernobyl-Reaktoren sind in der früheren Sowjetunion immer noch in Betrieb, zehn zusätzliche Uralt-Meiler im ehemaligen Ostblock werden von Fachleuten übereinstimmend als vergleichbar gefährlich eingestuft. Nun ist wieder von „tickenden Zeitbomben“ die Rede und von „brennenden Lunten“. Eine seltene Einheitsfront steht ins Haus, die sich von den Grünen über den Bundesumweltminister bis in die Vorstandsetagen der Atomwirtschaft erstreckt: Sie alle verlangen die sofortige oder schnellstmögliche Stillegung der Schreckensmeiler im Osten.

Was heißt schnellstmöglich? Wir schreiben das Jahr 6 nach Tschernobyl. Was ist seit dem großen Knall in der Ukraine am 26. April 1986 geschehen? Anläßlich ungezählter Tagungen und Gipfeltreffen haben sich Politiker und Atomindustrielle, Wissenschaftler und Beamte in ihrem gemeinsamen Ziel bestärkt, die Sicherheit der Atomkraftwerke „weltweit“ auf ein gemeinsames Niveau zu heben und weiter zu verbessern. Eine wahre Schwemme von Expertisen bestätigte den desolaten Zustand der Ostmeiler. Die Politik will in Rußland, der Ukraine und anderswo Atomaufsichtsbehörden nach westlichem Vorbild errichten. Die Atomwirtschaft entdeckt die altruistische Variante des Kapitalismus, verspricht „Hilfe zur Selbsthilfe“ — und hat doch zuallererst die eigenen leeren Auftragsbücher im Auge. Man will nachrüsten und ertüchtigen, was das Zeug hält. Die EG und andere internationale Gremien legen halbherzig Hilfsprogramme auf, ausgerechnet für jene Reaktoren, deren Weiterbetrieb selbst eingefleischte AKW-Hardliner öffentlich nicht mehr verantworten wollen. Das Ergebnis nach fast sechs Jahren: Null, buchstäblich Null. Die atomare Bedrohung Ost- und am Rande auch Westeuropas hat sich seit Tschernobyl verschärft, nicht entspannt.

Das Katastrophenmanagement läuft vom Ansatz her falsch. Alle Beteiligten versprechen, Atomkraftwerke nachzurüsten, die ebenfalls alle Beteiligten im selben Atemzug als nicht nachrüstbar qualifizieren. Zur Auflösung des Widerspruchs, der im übrigen kaum jemandem aufzustoßen scheint, dient der Sachzwang Stromknappheit. Das alles beherrschende Kernmotiv jedoch, in Ost und West gleichermaßen vertreten wie verschwiegen, ist ein anderes: Man will das nukleare Risiko mindern, ohne die nukleare Stromproduktion in Frage zu stellen. Man will den nächsten Super-GAU vermeiden und daran verdienen. Dieses Vorhaben ist schlicht unbezahlbar. Die Kassen im Osten sind leer, die Spendierhosen im Westen im Kleiderschrank. Zweistellige Milliardenbeträge zur Nachrüstung werden locker in die Runde gerufen, auf den „Spendenkonten“ gehen derweil maximal dreistellige Millionenbeträge ein.

Risiko-Deeskalation kann es nur geben, wenn ab sofort die ungeheuren Einsparpotentiale schrittweise, aber zügig mobilisiert werden, die in den ehemals sozialistischen Ländern wie nirgends sonst brachliegen. Ein solches Notprogramm ist keine Hexerei. Es erfordert keine Milliarden, jedenfalls nicht von heute auf morgen. Fossile Brennstoffe müssen die Kraftwerke erreichen, für die sie bestimmt sind, Lecks an Fernwärme- und Erdgasleitungen müssen gestopft, defekte Stromleitungen repariert werden. Das alles hat aktuell wenig zu tun mit kühnen Öko-Träumen von einem umweltschonenden Energiesystem in Osteuropa. Aber es verschüttet diese Option nicht, wie es eine mit zig Milliarden herbeigezwungene oder konservierte AKW-Infrastruktur täte. Atomkraftwerke steuerten zur Energieversorgung der früheren Sowjetunion drei und zur Stromversorgung knapp dreizehn Prozent bei. Hätte man die Energiehilfe von Anfang an in Richtung Effizienzsteigerung gelenkt, wären zumindest die Tschernobyl-Meiler längst überflüssig. Mag sein, daß angesichts einer maroden und inselartig organisierten Strominfrastruktur das eine oder andere Kraftwerk nicht von heute auf morgen ausgeknipst werden kann. Um so mehr geht es jetzt um eine politische Richtungsentscheidung. Und die muß lauten: Ausstiegshilfe statt Nachrüsthilfe. Ansonsten hilft nur noch beten. Gerd Rosenkranz

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