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KOMMENTAREVerzögerter Marsch zur Macht

■ Das Verbot der FIS in Algerien wird die Islamisten langfristig eher stärken

Exit also die Islamische Heilsfront (FIS). Mit der endgültigen Auflösung der Islamisten- Partei durch das Oberste Gericht von Algier und mit der Verbannung von zehntausend Aktivisten in die Tiefen der Sahara hat die algerische Militärjunta den langen Marsch der Islamisten zur Macht zwar verzögert, aber nicht unterbrochen.

Seit Nassers Unterwerfung der ägyptischen Moslembrüder suchen die Regimes vom Bosporus bis zum Riff der islamistischen Herausforderung mit Repression beizukommen. Tunesiens Präsident Ben Ali treibt alle paar Monate nach inszenierten Komplotten Dutzende von Islamisten der Bewegung „Ennahda“ („Renaissance“) in die Folterkeller und vor die Exekutions-Pelotons. In den „geheimen Gärten“ des marrokkanischen Königs schmachten nicht nur die islamischen Studentenführer der 90er-Bewegung und die Islam-Marxisten, sondern auch der greise Abdelssalam Yacine, der 1973 Hassan II. in einem offenen Brief die Legitimität als „Führer aller Gläubigen“ absprach. Nach jedem Schlag aber stehen die Islamisten gestärkt wieder auf, nach jedem Schlag wird klarer, daß diese illegitimen Söhne der Mesalliance von arabischem Nationalismus und westlicher Vorherrschaft die einzige politische Kraft im arabischen Raum sind, der eine starke Mehrheit der Bevölkerung zuspricht.

Die FIS ist durch drei Monate Ausnahmezustand geschüttelt, nach der Auflösung der — gewählten — Gemeindeversammlungen desorganisiert, fast aller Kader und Kommunikationsmittel beraubt. Die Islamisten sind in die Phase der „Verschleierung“ eingetreten und des klandestinen Wiederaufbaus. An den Universitäten organisieren Zellen nach altem FLN-Muster Hunderte von Neu-Aktivisten. Zweimal wöchentlich wird an den Mauern der Volksquartiere ein FIS-Communiqué angeschlagen und in Hammams und kleinen Quartiermoscheen diskutiert. Die staatlich eingesetzten Prediger reden vor leeren Häusern. Und die harte Repression treibt den Islamisten neue Sympathisanten zu.

Derweil übt sich die Junta im Kunststück, dem Volk zu erklären, warum sie sich einen 60köpfigen Konsultativrat als Schlabberlatz vorgehängt hat, während die gewählten Deputierten in der Sahara dörren. Im neuen Gremium fand sich kein einziger unabhängiger Kopf von Bedeutung ein, der glaubhaft machen könnte, eine dritte, demokratische Kraft zu vertreten. Premier Sid Ahmed Ghozalis Wirtschaftsprogramm wurde von Gewerkschaften und Unternehmern abgelehnt. Preise und soziale Nöte steigen. Vor allem aber stellt sich — brennend — die Frage der Gefangenenlager. In wenigen Wochen steigen die Temperaturen in der Sahara bis auf 55 Grad im Schatten. General Nezzars Dilemma heißt Freilassung oder Todeslager. So oder so: Gehen eines Tages die Stacheldrahtverhaue auf, strömen Tausende von gutorganisieren politischen Gefangenen in die Städte zurück, denen das Regime ein halbes Leben schuldet. Olivier Fahrni

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