KOMMENTARE: Wo endet Europa?
■ Bosnische Flüchtlinge werden an der deutschen Grenze zurückgewiesen
Über vierhunderttausend Menschen — die meisten von ihnen Muslimanen — mußten aus Bosnien-Herzegowina flüchten, über 1,2 Millionen Flüchtlinge hat der Krieg auf dem Balkan schon produziert. Und angesichts der sich steigernden Grausamkeit der Kämpfe, angesichts der erklärten Strategie der serbisch dominierten ehemaligen Bundesarmee und der serbischen Freischärler, durch Vertreibung ethnisch reine Gebiete zu schaffen, wird dieser Flüchtlingsstrom in absehbarer Zukunft auch nicht kleiner werden. Schon jetzt ist abzusehen, daß die Reaktion der Grünen Barette, der muslimanischen Kämpfer und der mit ihnen verbündeten Kroaten nicht weniger grausam sein wird. Wenn sich die militärischen Bedingungen verändern, wenn also die serbischen Kräfte — was abzusehen ist — nicht nur politisch, sondern auch militärisch in die Defensive geraten, werden erneut Hunderttausende von Flüchtlingen erzeugt: Dann werden es Serben sein, die aus ihrer Heimat flüchten müssen.
Vor den fatalen Folgen der Politik der Homogenisierung, das heißt der ethnischen Entmischung, warnten in der Region selbst schon vor dem Krieg nicht nur Menschenrechtsorganisationen und demokratische Oppositionelle. Noch einmal zu beklagen, daß diese Folgen des Krieges auch durch die unklare Haltung der internationalen Institutionen und der EG-Staaten hinsichtlich dieses Aspekts mitproduziert wurden, ändert nichts an den schrecklichen Ereignissen. Doch die Herzlosigkeit, die unerbittliche Rückweisung vieler Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet an der österreichischen Grenze, zeugt nicht nur von der Verantwortungslosigkeit der österreichischen Regierung. Da sie sich auf die Rückweisung bosnischer Flüchtlinge an der deutschen Grenze beruft, liegt der Schwarze Peter auch in Bonn.
Nach den Kriterien der nach wie vor verbindlichen Reiseregelungen ist dieses Vorgehen unstatthaft. Der visafreie Reiseverkehr zwischen Deutschland und Jugoslawien wurde bisher nicht aufgehoben. Angesichts der Tatsache, daß in einer Korrektur der Durchführungsvorschriften die Reisefreiheit für Kroaten und Slowenen nach der diplomatischen Anerkennung beider Länder dankenswerterweise ausdrücklich bestätigt wurde, wird die Maßnahme gegen bosnische Bürger um so unverständlicher. Schließlich wurde auch Bosnien am 6. April dieses Jahres diplomatisch anerkannt, von einem Visumzwang ist nichts bekannt.
Es drängt sich also der Verdacht auf, daß sich hier unter Inkaufnahme von Rechtsbruch ein (vor)politischer Konsens entwickelt hat. Bosnische Muslime stoßen demnach auf weniger Verständnis und Solidarität als Kroaten und Slowenen. Es liegt jetzt an einem klaren Wort der Politiker, den schrecklichen Verdacht auszuräumen, Europa ende an der kroatisch-bosnischen Grenze. Erich Rathfelder
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