KOMMENTARE: Der Druck auf Jelzin wächst
■ In der russischen Innenpolitik spielen Konservative wieder eine Rolle
Nicht einmal ein Jahr ist es her, daß Boris Jelzin auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand. Mit dem Widerstand gegen die Putschisten hatte er nicht nur in der Weltöffentlichkeit, sondern sogar in Rußland große Sympathien erworben. Jelzin, der Macher, der populistische Führer, der Streiter für die Demokratie, der „Westler“, konnte fortan daran gehen, die Sowjetunion aufzulösen, die Preise zu erhöhen, von Wirtschaftsreformen zu reden und alle Kritiker mit dem Bannfluch des Konservativismus zu belegen. Boris Jelzin vereinte wie Gorbatschow die Macht des Kreml in seinen Händen. Und muß nun wie sein Vorgänger zusehen, wie sie ihm wieder zerrinnt.
In einer Gesellschaft, die immer noch nicht über die Mechanismen verfügt, gesellschaftliche Verteilungskämpfe und politische Konflikte in regulierte Bahnen zu lenken, ist dies auch nicht verwunderlich. Was soll auch eine Bevölkerung denken, die angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs ums reine Überleben kämpft und mitansehen muß, daß — wie schon unter Gorbatschow — einzig mafiose Bünde und Spekulanten vom neuen Zustand profitieren. Noch hat die Verlockung, als Reaktion auf diese neuen Zeiten sich an den uralten Werten der russischen Geschichte zu orientieren, nur Randbereiche erfaßt. Doch mit dem sich wieder aufrichtenden Bündnis von antiwestlichen Russophilen, der orthodoxen Kirche und den der Weltmachtrolle nachweinenden Teilen des alten Apparates samt Militärs formiert sich eine Kraft, die sich eines Tages durchaus größeren Rückhalt verschaffen könnte.
Auch wenn die konservative Fronde noch gespalten ist, aktionsunfähig scheint sie nicht mehr zu sein. Bei den Konflikten und Kriegen im Kaukasus, in Transnistrien und auch auf der Krim beginnt sich strategisches und koordiniertes Handeln abzuzeichnen. Der Umstand, daß in Moldova-Transnistrien die reguläre GUS-Armee, aus Freiwilligen bestehende Kosakenverbände und die alten politischen Kader das Gesetz des Handelns bestimmen, kann für Jelzin gefährlich werden. Je mehr die russischen Minderheiten außerhalb Rußlands unter Druck geraten, desto leichter können Anlässe für nationalistische Kampagnen in Rußland selbst gefunden werden. Die Tatsache, daß in einigen Ländern des ehemaligen Ostblocks die Funktionalisierung der Nationalgeschichte durch Nationalisten gelungen ist und chauvinistisch-nationalistische Kräfte nach der Macht greifen, heißt zwar noch nicht, daß diese Entwicklung auch in Rußland durchschlägt. Die Konservativen aus Intelligenzija und Apparat werden aber alles dafür tun. Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen