piwik no script img

KOMMENTAREFalsche Diskussion

■ Wann redet die Politik endlich über Arm und Reich in Europa?

Schaut man sich die nicht enden wollende Debatte der großen Parteien zum Thema Asyl nur aus der letzten Woche an, wird klar, daß es längst nicht mehr um das Für und Wider einer Grundgesetzänderung geht. Nachdem der Straßenterror die Vorlage geliefert hat, sind jetzt die Juristen am Zug. Ausgangspunkt war noch vor wenigen Monaten eine Ergänzung des Grundgesetzes Artikel 16, durch die einem Mißbrauch des Anspruchs auf politisches Asyl entgegengetreten werden sollte. Diese Debatte ist so alt wie die Inanspruchnahme des Grundgesetzes durch Flüchtlinge Ende der sechziger Jahre. Selbst der jüngste Zynismus aus dem Hause Seiters, Flüchtlinge sollten ihren Anspruch auf ein rechtliches Verfahren doch aus ihrem Heimatland wahrnehmen, ist keineswegs neu. Neu ist nur, daß das, was ehedem als Provokation aus der rechtsradikalen Ecke galt, nun Regierungsvorlage geworden ist.

Längst wird nicht mehr über eine Ergänzung des Grundrechtes, sondern über Streichung und andere weitergehende „zustrombegrenzende Maßnahmen“ geredet. Dabei wird einer der demokratischen Anker dieser Republik in einem Konflikt gekappt, der mit dem Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ kaum etwas zu tun hat. Der reale Kontext ist ein anderer, der von der Politik systematisch verschleiert wird.

Sieht man einmal davon ab, daß immer wieder verstärkt Menschen an der deutschen Grenze standen, wenn irgendwo ein blutiger Bürgerkrieg tobte (siehe Kurdistan, Sri Lanka, Libanon) die in den Jahren vor 1989 die Asylstatistik auffüllten, so existiert das sogenannte Flüchtlingsproblem tatsächlich erst, seit der Eiserne Vorhang fiel. Das eigentliche Problem ist die Armut Osteuropas im Vergleich zum Westen. Statt darüber zu reden, wie Westeuropa mit dem armen Osten umgehen soll, werden die Menschen als Flutwelle denunziert, die man brechen muß.

Doch den Damm gegen die Armut wird es mit oder ohne Artikel 16 nicht geben. Das weiß im Prinzip jeder Politiker, doch niemand will öffentlich darüber reden. Da schon die Diskussion um das Teilen mit den Menschen in der Ex-DDR verpönt ist, wird sie erst recht für den europäischen Maßstab vermieden. Doch solange die Menschen im Osten in ihren Ländern keine Perspektive sehen, werden sie versuchen, in den Westen zu kommen. Dieser Prozeß wird Jahre andauern und nur dann halbwegs zivilisiert ablaufen, wenn in der westlichen Öffentlichkeit sich die Erkenntnis durchsetzt, daß das Ende des Kalten Krieges von allen ihren Obolus fordert. Dies durchzusetzen wäre Aufgabe der Politik. Dann könnte man auch über Regelungen einer kontrollierten Zuwanderung im richtigen Zusammenhang diskutieren. Jürgen Gottschlich

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen