KOMMENTAR: Stolpernder Aussteiger?
■ Ein neuer Haftbefehl gegen Peter-Jürgen Boock
Der frühere RAF-Mann Peter-Jürgen Boock ist — daran kann kein Zweifel bestehen — aus der RAF „ausgestiegen“, er hat dem Terrorismus für immer den Rücken gekehrt. Seit mehreren Jahren steht seine vorzeitige Haftentlassung auf dem Gnadenweg zur Diskussion. Der Bundespräsident hat ihn im letzten Jahr besucht und die Begnadigung dann auf Intervention des Generalbundesanwalts (damals noch Rebmann) zunächst ruhen lassen. Der Aussteiger stand im Zentrum einer breiten Solidaritätskampagne, selbst die Brüder des von der RAF ermordeten Gerold von Braunmühl spendeten zu seinen Gunsten 20.000 DM in einen Rechtshilfefonds.
Boock begründete seine Verteidigungslinie mit zwei Argumenten: Er sei Aussteiger, der andere dennoch nicht denunzieren wolle, und außerdem sei er das ganze Jahr 1977 medikamentenabhängig und daher zur Tatzeit nur eingeschränkt schuldfähig gewesen. In diesem Sinn verlangte er mildernde Umstände.
Nun gibt es inzwischen — offensichtlich aufgrund von Zeugenaussagen der ehemaligen RAF- Mitglieder, die mit Hilfe der alten DDR-Staatssicherheit aussteigen konnten — einen neuen Haftbefehl gegen Peter-Jürgen Boock. Er soll demnach im Jahre 1979 (!) an einer Schießerei in Zürich beteiligt gewesen sein, bei der eine unbeteiligte Passantin erschossen und drei weitere Personen verletzt wurden. Ein Vorwurf, der — auch wenn er aus dem Mund von Kronzeugen stammt — von Boocks Verteidiger kaum mit dem Hinweis „alter Ermittlertrick“ beantwortet werden kann.
Ein Haftbefehl ist kein Urteil. Es kann auch nicht darum gehen, der offensichtlich außerordentlich selektiven Informationspolitik der Bundesanwaltschaft vorschnell Glauben zu schenken. Immerhin ist nach den neuen Aussagen der Ex-RAFler aus der DDR auch klar, wie in Karlsruhe bei den Ermittlungen gegen die RAF Anklageschriften gezimmert, Urteile und Haftbefehle durchgesetzt wurden, die jeder Grundlage entbehrten. Aber dennoch stellen sich schon jetzt Fragen an Peter- Jürgen Boock, Fragen auch an eine möglicherweise ungenügend fundierte Solidaritätskampagne. Es gibt das gesetzliche Recht eines Angeklagten, sich eine Verteidigungstaktik auszudenken, Fakten zu unterschlagen, sogar zu lügen. All das ist legitim. Doch öffentliche Solidarität baut auf der Annahme auf, daß dem Delinquenten schweres Unrecht widerfährt, und sie setzt voraus, daß seine Einlassungen wahr sind. Wenn es um Mord geht ist die Wahrheit schwerlich teilbar. Die solidarische Öffentlichkeit hat sich insoweit auf Boocks Aussagen verlassen. Es besteht nun die Gefahr, daß sich diese Öffentlichkeit einfach zurückzieht und ihr beachtliches Engagement stillschweigend und individuell als einen weiteren politischen Irrtum vergangener Zeiten abbucht. Diese Möglichkeit ist im Augenblick die allerwahrscheinlichste. Man könnte sich aber auch dafür engagieren, daß die Wahrheit über den Deutschen Herbst 1977 doch noch ans Licht kommt. Das geschieht am ehesten und am sichersten durch entsprechende Strafverfahren. Es setzt den Willen aller Prozeßbeteiligten voraus, an eben dieser Wahrheitsfindung mitzuwirken — eine Möglichkeit, die durch die „Kronzeugenregelungen“ erheblich behindert ist. Es sollte also nicht Gnade vor Recht ergehen, die Gnade allerdings dem Recht folgen. Denn es besteht am Ende der Zeit, die in Deutschland vom Nationalsozialismus und seinen Folgen tief geprägt war — und die auch die RAF hervorgebracht hat — immerhin die Chance, jenes Stück Gestapo-Mentalität aus der deutschen Gegenwart zu eliminieren, das den Terroristenjägern ebenso eigen war wie denen, die im Namen einer besseren Welt Menschen „hinrichteten“, mit einem Genickschuß „erledigten“ oder sie gewissermaßen nebenbei, so wie in Zürich, bei einem Banküberfall erschossen.
Viel wird darauf ankommen, was Jürgen-Peter Boock zu den neuen Vorwürfen sagt — und: wie er es sagt, denn dabei steht auch seine eigene Glaubwürdigkeit als Aussteiger auf dem Spiel. Gerhard Mauz schrieb Boock nach seiner zweiten Verurteilung 1986 ins Stammbuch: „Wer wirklich umkehren will, sollte erkennen können, daß es einen Weg gibt, der hart ist, bitterschwer — aber doch ein Weg. Man findet sich selbst nicht, wenn man nicht in allem zu sich steht.“ Götz Aly
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