KOMMENTAR: Neue Freunde
■ Was Gorbatschow in Bonn klären muß
Bundesbürger und Bundesbürgerin, gleich ob Altbestand oder Neumitglied, haben augenscheinlich noch gar nicht begriffen, daß die Bundesregierung ihm wie ihr im Osten neue Freunde beschert hat — die Russen. Jedenfalls schließen die beiden Länder die weitestgehenden Abkommen über Zusammenarbeit, auf welche sich je die Sowjetunion mit einem kapitalistischen Staat eingelassen hat. Zugleich haben sich die politischen Inhalte in den Beziehungen vollständig gewandelt. Statt der alten Konfrontation steht nunmehr Kooperation auf dem Programm. Es handelt sich bei dieser neuen Verbindung keineswegs um eine Liebesheirat. In Moskau wurde kühl abgewogen, welcher Partner als Helfer aus der Misere am geeignetsten wäre, und die Sowjets wußten, daß sie mit der Vereinigung und dem Truppenabzug auch etwas Attraktives anzubieten hatten. Wenn Gorbatschow am Freitag nach Bonn kommt, will er Kasse machen, und die bei den hastig ausgehandelten Verträgen offengebliebenen Fragen entscheiden — unter Freunden, versteht sich. Gorbatschow muß beinhart verhandeln, angesichts der Wirtschaftsprobleme in der UdSSR geht sein Handlungsspielraum gegen Null.
Die wirklich großen Probleme kommen jedoch auf beide Regierungen zu, wenn in wenigen Monaten das Paßgesetz in Moskau den Obersten Sowjet passiert und jeder reisen kann, wohin er will. Insider rechnen mit ein bis zwei Millionen Sowjetbürgern, die sofort das Land Richtung Westen verlassen werden. Wohin diese Wirtschaftsflüchtlinge gehen werden, läßt sich rasch ausmalen. Die in Ostdeutschland stationierten Sowjettruppen beherbergen nach Bonner Schätzung 180.000 Familienangehörige, eine sicher zu niedrig angesetzte Zahl. Diese größte russische Kommunität in Westeuropa dürfte Ziel des anstehenden Sternmarsches aus den Sowjetrepubliken werden, während die Rußlanddeutschen gleich nach Westdeutschland durchfahren dürften.
Es geht mitnichten nur um die Regelung von Truppenstationierung und -abzug sowie das Begleichen der Rechnung für die Wiedervereinigung. Die weitgehenden Zusagen der Bundesregierung müssen aufgefüllt werden, soll nicht binnen kurzem Ernüchterung und Enttäuschung bei den Sowjets eintreten. Die Sowjetregierung unterschrieb gar, daß die Kirchen beider Länder künftig eng miteinander zusammenarbeiten sollen. Was bizarr erscheint, ist Teil eines strategischen Ziels der sowjetischen Außenpolitik: Enge Bindungen mit den Deutschen sind gewollt. Als Muster dafür stehen die Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Ulrich Albrecht
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