KOMMENTAR: Doch Posemuckel?
■ Wie der DGB in Berlin zum 1. Mai ruft
Der DGB übt sich in Bescheidenheit. Da wird der 1. Mai zum ersten Mal im wiedervereinigten Berlin gefeiert, und die Gewerkschaft begeht diesen Tag grad so, als befänden wir uns nicht in der bundesdeutschen Hauptstadt, sondern in Posemuckel (danke, Herr Reuter). Jeder weiß: Die Überwerfungen des deutsch-deutschen Einheitszusammenstoßes sind in dieser Stadt wie unter einem Brennglas zu beobachten. Heute schaut die Welt auf diese Stadt, nur der DGB schaut weg — die zentrale Kundgebung findet in einem sachsen-anhaltinischen Städtchen namens Halle statt. Dort wird auch DGB-Chef Meyer zu hören sein. Und in Berlin? Nichts gegen Holger Kaselow, den rührigen Betriebsratschef vom Ostberliner Werk für Fernsehelektronik. Und auch nichts gegen Christiane Bretz, die als lokale Gewerkschaftsvorsitzende ihr Mai-Debüt gibt. Aber: Hätt's nicht vielleicht doch 'ne Nummer größer sein dürfen? Während Senat und Berliner Öffentlichkeit sich für den Regierungs- und Parlamentssitz an der Spree mächtig ins Zeug legen, zelebriert der DGB in Berlin ein Kulturfest mit wahrlich provinziellem Charakter. Mit der Berliner Singgemeinschaft Märkisches Ufer als Eröffnungsanimateur.
Dabei ist das aus dem Leid neuer Montagsdemonstrationen erwachsene DGB-Argument, mit Protestmärschen sei kein Hund mehr hinter dem Ofen hervorzulocken, so falsch nicht. Nur: Angesichts dieser Besetzung handelt es sich wohl um den klassischen Fall einer Selffulfilling prophecy. Der Deutsche Gewerkschaftsbund präsentiert sich am Kampftag der arbeitenden Bevölkerung also nicht bescheiden, sondern ängstlich und einfallslos. Und weil sie die Schaufensterfunktion Berlins auch bei dieser traditionellen Veranstaltung ignorieren, hinterläßt die DGB-Planung noch dazu einen unpolitischen Eindruck. Haben die Gewerkschaften den Kampf um »soziale Einheit in Frieden und Freiheit«, wie das Allerweltsmotto in diesem Jahr heißt, also schon vor dem Beginn aufgegeben? Anita Kugler/Axel Kintzinger
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