KOMMENTAR: Übervater Diepgen
■ Auch die links-alternativen Wähler lieben den Regierenden
Die politische Stimmung in Berlin im Jahre zwei nach der Vereinigung ist stabil: Im Wahlverhalten und den Vorlieben für bestimmte Parteien bleiben sich die Berliner treu und somit weiter gespalten. Bei der berühmten Sonntagsfrage ginge der letzte Wahlsieger CDU im Westteil der Stadt wieder fast genauso unangefochten aus dem Rennen, während sie in Ost-Berlin wieder nur bei 26 Prozent läge. Dort läge die SPD weit vorn, im Westen dagegen kann sie nach wie vor keinen Blumentopf gewinnen. Ein rot-grünes Bündnis hätte allerdings ebenso viele Stimmen wie eine CDU-FDP-Koalition — für die großen Parteien wäre das vermutlich Begründung genug, wieder eine Große Koalition einzugehen.
Für die in ihrem Selbstbewußtsein ohnehin stark angeschlagenen Sozialdemokraten müssen die Ergebnisse ein weiterer Schock sein: Nur zwei Drittel ihrer eigenen Wählerschaft trauen ihrer Partei politische Kompetenz zu. Für die SPD könnte sich ihr Trauma erfüllen, aus einer großen Koalition profilloser denn je zuvor herauszugehen. Doch auch für die CDU müssen die Alarmglocken klingeln: Insgesamt erfreut sich der schwarz-rote Senat keiner großen Beliebtheit in der Stadt — im Osten deutlich weniger als im Westen. Trotz der Unzufriedenheit ist jedoch der Regierende Diepgen der Shooting-Star dieser allgemein als handlungsunfähig eingestuften Regierung — selbst bei linken Wählern. Für seinen Vorgänger Momper mag es ein Trostpflästerchen sein, auf Platz zwei der als wichtig eingestuften Politiker zu liegen. Andere Senatoren nebst den Fraktionschefs der Regierungsparteien sind so gut wie bedeutungslos. Es stellt sich in Berlin ein ähnlicher Effekt ein wie in Brandenburg und Sachsen, wo die Regierungschefs Stolpe und Biedenkopf bereits den Beinamen »Übervater« führen. Trotz Farblosigkeit und Führungsschwäche, die Diepgen attestiert werden, versteht er es, in der Öffentlichkeit ein anderes Bild zu produzieren. Auch das ein Preis für die große Koalition, deren Senatsmitglieder nur aus der zweiten Reihe gestellt wurden und sich in kleinlichen Händeln zerreiben. Kordula Doerfler
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