KOMMENTAR: Kalte Seelen im warmen Bett
■ Kaum einer ist in diesem Winter bereit, Geld für Lebens- und Arzneimittel in Rußland zu spenden
Was ist bloß mit den Berlinern los? Im vergangenen Winter konnte man sich vor Spendenbüchsen und Solidaritätsaktionen kaum retten, verging kein Tag, an dem einem das Radio nicht die Ohren mit der Winterhilfe vollgedudelt hätte. Voll von Dankbarkeit und Euphorie über die geöffneten Grenzen versuchten Millionen ihr Herz für Rußland, das damals noch in der Union der Sowjetrepubliken aufging, unter Beweis zu stellen, indem sie ihre Portemonnaies und Brieftaschen zückten. Die Spendenkonten liefen über.
Ein Jahr später geht es dem Vielvölkerstaat nicht besser. Im Gegenteil. Millionen Rentner, Arbeitslose und Waisenkinder trifft die Freigabe der Preise so schwer, daß sie ernsthaft um ihr Leben fürchten müssen. Doch das scheint die Berliner diesmal nicht zu interessieren. Das Herz für Rußland ist abbezahlt, das Hemd wieder näher als die Hose. Nicht einmal das schlechte Gewissen regt sich. Schließlich gibt es auf der Erde viele Menschen, denen es noch viel dreckiger als den Russen und ihren Nachbarn geht. Wo kämen wir denn hin, wenn wir denen allen helfen wollten? Außerdem ist Jelzin längst nicht so sympathisch wie Old Gorbatschow, und viele Hilfstransporte kommen sowieso nicht an ihrem Bestimmungsort an. Überdies sind Demokratie und wirtschaftlicher Aufschwung mit ein paar Millionen Geldspenden ohnehin nicht zu kaufen.
Damit sind wir alle fein raus und können uns satt und beruhigt im warmen Bett auf die andere Seite drehen. Nur ein paar wenige haben's noch nicht kapiert. Das merkwürdige ist nur, daß die selbstbewachten projektbezogenen Transporte tatsächlich in den Altersheimen und Kinderheimen ankommen. Sie machen nicht nur den Winter für kurze Zeit etwas milder, sondern »wärmen auch die Seele«, wie der Puschkiner Bürgermeister Nikiforov gestern so schön sagte. Plutonia Plarre
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