KOMMENTAR: Ein Fünkchen Anarchie
■ Wenn die Stadt abgestellt wird: Gehindert an der Hast, werden die Menschen sich ihrer selbst bewußt
Nun rollen sie wieder, die U-Bahnen. Die Ampeln schalten auf Grün, die Lampen leuchten, die Heizung wärmt, die Computer surren, der Aufzug zuckelt nach oben, die Kaffeemaschine spuckt schwarze Galle, die Kühltruhe beschützt die Schnitzel von morgen, und die elektronisch gesteuerte Telefonanlage meldet sich mit dutzendfachem Klingeln zurück.
Trotz des Chaos auf den Straßen, in den Kaufhäusern und den Betrieben: unsere westliche Industriegesellschaft hat den Ausnahmefall mal wieder bewältigt. Banken und Kaufhäuser wurden vor faulen Kunden gesichert, Schulkinder nach Hause geschickt, U-Bahn-Fahrgäste aus den Tunneln geholt, Notstromaggregate in den Krankenhäusern angeworfen und Hubschrauber in die Luft geschickt, um das Chaos per Verkehrsfunk zu kommentieren.
Nun funktioniert wieder alles. Wir sind es zufrieden — und ganz tief drinnen ein bißchen enttäuscht. Die Menschen, ob in U-Bahnen eingesperrt oder zur Untätigkeit in Büros verdammt, wurden schließlich mit einem Erlebnis belohnt: die ganze Stadt stand still, und keiner nahm übel. Der Mensch, ansonsten ohne Zeit und hetzend, wurde unverhofft sich seiner selbst im Getriebe der Großstadt bewußt. Wenn auch spürbar wurde, wie abhängig das Leben einer Großstadt von elektrischer Energie ist, wichtiger war in diesen anderthalb Stunden dieser Ausnahmezustand, dieses anarchische Gefühl, das die Stimmung hob.
Was jetzt kommt, ist absehbar. Nun wird wieder über den angeblich notwendigen Stromverbund mit dem Rest der Republik gestritten, werden neue Kraftwerke gefordert. Aber jede technische Lösung schafft neue Probleme, und die Ressourcen der Erde sind nicht beliebig vermehrbar. Doch trotz der notwendigen und wichtigen Erörterungen — das süße Gefühl der Anarchie bleibt. Eva Schweitzer
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