piwik no script img

KOMMENTARDie verlorene Zeit

■ Wer sich kein Auto leistet, dessen Zeit muß wertlos sein

Menschen, die mit der BVG fahren, haben viel Zeit. Seit heute haben sie zum Beispiel die Zeit, von der Kochstraße zum Märkischen Museum — ein Kilometer Luftlinie — einmal auf die U-Bahn zu warten und zweimal auf den Bus. Auch wer mit der S-Bahn nach Potsdam fährt — in Vorkriegszeiten brauchte man dazu von der Friedrichstraße aus eine Dreiviertelstunde — hat viel Zeit, den alle zwanzig Minuten kommenden Zug abzuwarten. Vorausgesetzt, dieser ist nicht einer Panne zum Opfer gefallen, sonst werden es vierzig Minuten. Immerhin: In den letzten zweieinhalb Jahren zuckelte die Diesellok nur alle Stunde los. Viel Zeit hatten BVG- Benutzer auch, als sie per Bus-Ersatzverkehr vom Anhalter Bahnhof zum Gesundbrunnen fuhren: mit dem Bus zur Kochstraße, dort einige Stationen mit der U-Bahn und dann mit dem nächsten Bus zum Gesundbrunnen — wenn auch nicht ganz die Route, die die S-Bahn zuvor nahm, denn die wird von Autos gebraucht.

Denn Autofahrer haben wenig Zeit. Große Umwege kann man ihnen nicht zumuten. Wenn etwa die Weidendammer Brücke gesperrt wird, wird für einige Millionen Mark flugs eine Behelfsbrücke für Autos danebengesetzt — für die Straßenbahn ist das nicht nötig. Weil Autofahrer so wenig Zeit haben, mußten auch fast alle Mauerstraßen schon wieder geöffnet werden. Zeit ist Geld: Für den berufstätigen Mittelklasse-Mann, der für gewöhnlich unsere Wirtschaft mit dem eigenen Auto im Schwung hält, darf es schon einiges kosten, den Weg rasch freizuräumen. Für das weniger nützliche Volk, das BVG fährt und studiert, Niedriglohn- Jobs abreißt, Rente bezieht oder ähnlich unproduktiv seine Zeit verschwendet, lohnen sich aufwendige Brücken oder Extra-Busspuren nicht. Dessen Zeit ist schließlich billig.Eva Schweitzer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen