KOMMENTAR: Überholter Revolutionsbegriff
■ Am 1. Mai in Kreuzberg feiert sich West-Berlin
Der 1. Mai in Kreuzberg ist zweifelsohne bemerkenswert, manifestiert sich dort doch in ungebrochener Kontinuität eine der wenigen Restbestände originär Westberliner Politik. Der vom Regierenden Bürgermeister Diepgen schon vor Jahren beschworene »Antiberliner« beherrscht die Szene und zelebriert für einen Nachmittag und einen Abend die pure Negation des vorherrschenden, der Zweck-Mittel-Rationalität verpflichteten Politikbegriffs. Und dies mit beachteter Wirkung und beachtlicher Kontinuität.
Auch in diesem Jahr werden die schon jetzt absehbaren Versuche, dem Geschehen im nachhinein eine Kausalität abzugewinnen, die gleichen mageren Ergebnisse zeitigen. So hilflos wie die Verurteilungen der CDU, so konsequenzlos werden die sozialen Analysen der SPD und der Grünen, und so haltlos werden die revolutionären Interpretationen der Autonomen selbst sein. Alle werden das Ereignis lediglich nach Maßgabe ihrer eigenen politischen Programmatik analysieren, erstere unter den operationalisierbaren Aspekten der Sicherheits- und Sozialpolitik, letztere in der vermeintlichen Kontinuität eines revolutionären Prozesses.
In dieser Kontinuität definiert, wird der gestrige Abend für die Linke nicht unwesentlich zur Stabilität des eigenen Lagers beitragen. Bemerkenswert daran ist, der einzige revolutionäre Prozeß, der in den letzten Jahren in Deutschland tatsächlich zum Sturz herrschender Verhältnisse geführt hat, wurde von eben diesen Linken lediglich in seiner Auswirkung auf die staatliche Verfaßtheit wahrgenommen. Aus diesem Blickwinkel werden die Ereignisse des Novembers 1989 und deren Folgen gar als Niederlage interpretiert. Die Wende nicht als Revolution, sondern als Wiederaufleben des großdeutschen Nationalismus. Auch darin mag sich die Distanz vieler Bürgerbewegter zu den West-Linken begründen. Dieses verquere Verhältnis wäre eher dazu angetan, analysiert zu werden, als die »militärischen Aspekte« des 1. Mai in Kreuzberg. Statt dessen dürfte die Debatte an den Stammtischen jedoch mal wieder von der Schlachtordnung auf der Straße beherrscht werden — auch das in einer Stetigkeit, die an Freddy Frintons »Neunzigsten Geburtstag« erinnert. Dieter Rulff
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