KOMMENTAR: Treue nicht belohnen!
■ Zu Senator Krügers Besuch im schwulen Cruising-Park
Das hätte sich die Schwulenbewegung vor zwanzig Jahren nicht träumen lassen: eines Tages von Politikern nicht nur mit freundlichen Grußworten umgarnt, sondern auch an den geheimsten Treffpunkten besucht zu werden. Jugendsenator Thomas Krügers Cruising-Ausflug in das schwule Freiluftsexgebiet im Volkspark Friedrichshain am Samstag ist jedoch weniger ein unliebsamer Angriff auf einen der letzten Homo-Freiräume als ein überfälliges politisches Signal. Indem der SPD-Vizechef völlig selbstverständlich mit den umherschweifenden Männern über Politik debattierte, verhalf er als erster Berliner Senator der promisken Lebensweise zu mehr Akzeptanz.
Im Gegensatz zu einflußreichen CDU-Politikern, die in der Öffentlichkeit Sitte und Anstand predigen, für sich selbst aber nach dem Gespräch mit dem Bauunternehmer den Bordellbesuch nicht verschmähen, durchbrach Krüger die konservative Doppelmoral. Damit betreibt er eine fortschrittlichere Politik als mancher Schwulenverbandsfunktionär, der nur die »normalen« Seiten des Schwulseins öffentlich herausstellt, die angeblich anstößigen und schrillen aber verschweigt.
Daß Thomas Krügers mutiger Besuch im Volkspark Friedrichshain mehr bedeutet als ein plumper Wahlkampfgag, beweist auch die harsche Abfuhr von Parteifreunden, die er sich bei seinem Vorstoß für die Homo-Ehe eingeholt hatte. Auch seine AL-Vorgängerin Anne Klein hatte während ihrer Amtszeit mehr Energien darauf verwandt, ihre eigene Vorliebe fürs gleiche Geschlecht zu verstecken.
Die promiske Lebensweise beschränkt sich aber bekanntermaßen nicht auf Schwule. Im Hinblick auf vielseitig liebende Heteros, die in Medien und Politik fast ebenso unsichtbar sind wie Schwule, sind Jugendsenator Krüger und seine schwarz-roten KollegInnen in der Bringeschuld. Wir warten gespannt darauf, daß Bürgermeister Eberhard Diepgen einmal zum Pressetermin auf einer Gruppensex-Party lädt oder Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien statt dem goldenen Hochzeitspaar einmal zehn Ehebrecherinnen mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnet. Für Treue und Zweisamkeit braucht schließlich niemand belohnt zu werden. Micha Schulze
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