KOMMENTAR: Die blockierte Gesellschaft
■ Der Fernfahrer als Inkarnation des deregulierten, neoliberalen Zeitalters
Frankreich staute, Europa erstaunte: „So different, these French, really...“ — „Undenkbar bei uns in Deutschland!“ Das waren die Kommentare der Sommerfrischler, denen zehn Tage lang Live-Darbietungen an Anarchie und Chaos geboten wurden. Schwitzend holperten sie über Feldwege und fragten sich, wie ein Land funktionieren kann, wo sich Laster einfach und ungestraft quer über die Autobahn stellen?
Die mobile Maginot-Linie der Routiers hat gezeigt, auf welch dünnem Eis sich die totale Mobilisierung einer Gesellschaft bewegt, wenn die soziale Organisation dabei unter die Räder kommt. Kein Berufsstand ist so individualisiert wie der der Fernfahrer. Gewerkschaften sind quasi inexistent. Jeder für sich und Gott Chronos gegen alle — kurz: der Fernfahrer ist das Ideal unseres neoliberalen, deregulierten Zeitalters. Die Mikro-Gesellschaft der Trucker ist in Atome aufgespalten. Das ist noch keine Katastrophe, aber es fehlt an entsprechenden Regeln und Strukturen, um Konflikte anderswo zu lösen als ausgerechnet am Abzweig Phalempin oder der N 7. Die Selbstorganisation der Fahrer, jene wundersame Autopoiesis auf der Autobahn, reichte lediglich aus, um hocheffiziente Wagenburgen zu bauen. Sie scheiterte jedoch darin, die plumpe Ur-Forderung („Keine Punkte-Lappen“) zu differenzieren und die Verantwortlichkeit der Hetzer, der Speditionsunternehmer, anzuprangern. So blieb es dann dem Verkehrsminister überlassen, die Arbeitszeiten und -bedingungen der Fahrer auf die Verhandlungsordnung zu setzen.
Das kollektive Parkgebot der „Routiers“ ist aber nicht nur eine innerfranzösische Angelegenheit. Die Fahrer stehen an vorderster Front des neuen, liberalen Europa. Denn „Freier Warenverkehr“ meint zunächst einmal: Verkehr. Es war im Zeichen des großen Binnenmarkts, daß 1987 in Frankreich die Tarife und Zulassungen für Spediteure freigegeben worden sind. Dadurch geriet das Transportgeschäft zum Dschungel. 33.000 Klein- und Kleinstspediteure unterbieten sich gegenseitig — auf dem Rücken ihrer Fahrer. Ab 1. Januar droht außerdem die besser organisierte Konkurrenz aus den Niederlanden und Deutschland. Der jetzt ausgehandelte Kompromiß stellt die Verantwortlichkeit der Speditionsunternehmer fest. Bei Führerscheinentzug muß dem Fahrer eine andere Tätigkeit gegeben werden. Die Punkte-Regelung bleibt. Nach zehn Tagen lösten sich gestern die Barrikaden langsam auf. Die Routiers stiegen wieder auf und rollten los. Jeder für sich, in seiner engen Kabine. Rollende Monaden im großen Euro-Markt. Alexander Smoltczyk, Paris
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