KOMMENTAR: Die Dritte in der Ersten Welt
■ Berliner Krempelmarkt ist ein Gradmesser der Armut
Für viele Berliner begann die Dritte Welt früher erst nach einer stundenlangen Flugreise. In Asien, Afrika und Lateinamerika, außerhalb abschirmender Hotels und Flughafenhallen, wurde dem Vertreter aus der Ersten Welt sehr rasch bewußt, wofür er in den Augen bettelnder Menschen stand: für ein Leben jenseits von Hunger und Armut.
Heute braucht der Berliner nicht mehr zu fliegen, sondern muß vom U-Bahnhof Gleisdreieck nur ein paar Schritte zum Reichpietschufer laufen. Dort erwartet ihn, schon außerhalb der Umzäunung des Krempelmarktes, die Dritte Welt, zu der die Menschen der Zweiten, ehemals sozialistischen Welt schon längst gehören. Es sind die Polen, Russen, Ukrainer, Bulgaren oder Rumänen, Bürger jener Länder, die nun ins Tal der Hoffnungslosen abrutschen. Der Markt ist Anschauungsunterricht für jene, die sich immer noch der trügerischen Erwartung hingeben, daß es nach dem Zusammenbruch des einst verhaßten Feindbildes besser gehen wird. Im Gegenteil: Jedes Wochenende, an dem der Markt sich außerhalb der Umzäunung weiter ausbreitet, beweist die weitere Verelendung der östlichen Nachbarn. Ihre Staatsangehörigen halten es mit ihren Regierungen. So wie jene den Ausverkauf ihres Landes betreiben, verhökern die angereisten Familien ihren Hausrat: Geschirr, Bettzeug, Porzellan.
Das alles, um mit ein paar Mark an dem Luxus der Ersten Welt teilzuhaben, die sich doch immer schneller von ihnen entfernt. Weil dieser Markt nun gar nichts mehr gemein hat mit dem pittoresken Bild vergangener Jahre, ist er für viele Berliner uninteressant, ja lästig geworden. Denn angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der die Menschen sich hinter und vor dem Zaun mit Dumpingpreisen gegenseitig unterbieten, provoziert er Fragen an die eigene Gesellschaft. Fragen, die viele sich nicht mehr stellen wollen. Statt dessen weicht man lieber aus, wo für den »konsumfreudigen Citoyen« gewiß noch ein lukrativer Fang zu machen ist: auf den vornehmeren Flohmarkt an der Straße des 17. Juni. Oder man wünscht sich insgeheim jene Saubermännermentalität, die jüngst CDU-Abgeordnete für den Ku'damm forderten. Nichts davon wird fruchten, denn die Rache der Dritten an der Ersten Welt hat schon längst begonnen. Und der Krempelmarkt ist da erst der bescheidene Beginn. Severin Weiland
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