■ KOMMENTAR: Gerechtfertigte Pfiffe
Kanzleramtsminister Friedrich Bohl wurde gestern in Sichtweite der ehemaligen KZ-Baracken von Sachsenhausen ausgebuht. Darf man das? Ja, man darf nicht nur, man muß. Denn was der Gesandte aus Bonn gestern als Lehre aus der deutschen Geschichte zog, ist Ausdruck für den geistigen Irrsinn in diesem Lande. Wie nicht anders zu erwarten, setzte Bohl die unsägliche Geschichtsklitterung fort, der sich die Konservativen in letzter Zeit um so unverblümter bedienen, seit sie den Sieg der Geschichte auf ihrer Seite wähnen: Sachsenhausen stehe für den Terror der NS-Zeit und für die Opfer des Stalinismus, der Rechtsstaat dürfe sich nicht durch die Extreme beider Seiten zerreiben lassen.
Genau diese Gleichsetzung völlig unvergleichlicher Aspekte in einem Atemzug ist es, was einen verzweifeln läßt. Es stellt sich die Frage, inwieweit die politische Klasse hierzulande tatsächlich bereit ist, die von ihr gesetzten und hochgehaltenen Prinzipien des Rechtsstaates zu verteidigen. Der stereotype Verweis auf das Ansehen Deutschlands im Ausland läßt ahnen, wovor Vertreter wie Bohl, Kohl und andere in Wirklichkeit Angst haben: vor sinkenden Exporterlösen.
Vom Grundgesetz, das bis heute immerhin einen einigermaßen zivilisierten Umgang garantiert hat, hört man weniger. Kein Wunder, wird doch von den Vertretern derselben Klasse am Beispiel des Artikels 16 derzeit vorgeführt, wie schnell man zu Änderungen bereit ist, wenn der Mob nur lautstark genug aufheult.
Der gestrige Redebeitrag von Bohl läßt Schlimmes für die von CDU und SPD angekündigte Großdemonstration in Berlin Anfang November befürchten. Ein zynischer Trost vorweg: Immerhin bleibt den Beteiligten ein Monat Zeit, um jede eindeutige Haltung bis zur Unkenntlichkeit aufzuweichen.
Es beschleicht einen das Gefühl, daß es letzten Endes nur um eine symbolische Ersatzhandlung gehen wird. Schließlich verpflichten Demonstrationen zu nichts. Die konkreten Handlungen sind heute tagtäglich, Abend für Abend gefordert: in allen Orten, wo sich der Mob zusammenrottet, Steine wirft und Brandstiftern vor brennenden Heimen applaudiert. Hier können der Rechtsstaat und seine Repräsentanten beweisen, wie ernst es ihnen um ihre eigenen Prinzipien ist. Severin Weiland
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