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Archiv-Artikel

KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON ÜBER DIE VERLEIHUNG DES FRIEDENSNOBELPREISES AN DIE EU Humor haben sie, die Norweger

Der Preis ist keine Bestätigung der Wirklichkeit der Union, sondern ihres Anspruchs

Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU hat das norwegische Nobelpreiskomitee einen sehr hintergründigen Humor bewiesen. Norwegen gehört der Europäischen Union nicht an, die Norweger haben sich einer Mitgliedschaft mehrfach verweigert, sie dürfen also ihre gigantischen natürlichen Ressourcen selbstbestimmt verwalten. Ergebnis: Das Land braucht sich weniger Sorgen um seine Zukunft zu machen als jedes andere in Europa. Die EU hat ohne eigenes Zutun nachhaltig Frieden geschaffen – in Norwegen.

Aus dem sicheren Abstand der Nichtmitgliedschaft heraus die EU auszuzeichnen ist aus norwegischer Perspektive ein sehr selbstloses Selbstlob. Ging es nicht gerade um die europäischen Werte von Toleranz und Solidarität, als Norwegen nach dem Utøya-Massaker im Juli 2011 plötzlich in den Abgrund blickte? Damals wurde in erschreckender Weise deutlich, wie fundamental wichtig die europäische Idee heute noch für die politische Kultur des Kontinents ist, als Weg zur dauerhaften Selbstüberwindung des Erbes von Krieg, Völkermord, Hass und Totalitarismus in Europas finsterem 20. Jahrhundert – und zugleich, wie fragil und wie gefährdet diese Idee bis heute bleibt.

Genau darum müsste es auch bei der Auszeichnung der Europäischen Union jetzt gehen: eine Mahnung an die Europäer, die keineswegs selbstverständlichen Grundlagen ihres friedlichen Zusammenlebens nicht aus den Augen zu verlieren. Denn zwischen europäischem Anspruch und europäischer Wirklichkeit klafft heute eine große Lücke.

Die EU, das ist auch der tausendfache Tod afrikanischer Flüchtlinge im Mittelmeer. Die EU, das ist auch das Versagen bei den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre, als so mancher EU-Politiker von der „Stunde Europas“ tönte, und beim darauffolgenden ersten Völkermord auf europäischem Boden seit dem Holocaust. Gerade was Friedenspolitik nach außen angeht, etwa bei Vermittlung zwischen tief verfeindeten Bürgerkriegsparteien, ist Norwegen der EU um Längen voraus.

Dazu kommt ein gewisser Hang der EU-Institutionen zu Rechthaberei und Selbstgewissheit, zu Kungelei und zu faulem Kompromiss. Das Image zu wahren ist ihnen oft wichtiger als die Problemlösung. Im Alltag vieler Europäer steht die EU heute für Sozialabbau und Entzug demokratischer Entscheidungsrechte. Nicht auszudenken, wenn die EU ihren Preis jetzt als Bestätigung ihrer Wirklichkeit sähe – statt ihres Anspruchs.

Je selbstverständlicher die europäische Idee und das Zusammenleben der Menschen in Europa werden, desto fragwürdiger erscheint das oft hochtrabende Auftreten der Europäischen Union als Organisation. Der norwegischen politischen Kultur ist solch hochtrabendes Auftreten eher fremd. Mal sehen, wer aus dieser Preisverleihung als der bessere Europäer hervorgeht.